Drei Kreise

Wert : Respekt
Autor: S.W. aus Lübeck

Die ganze Schulzeit über war mir klar, was ich werden möchte.

Ich arbeite mit Naturstein in vierter Generation. Unser Betrieb reicht knapp 200 Jahre zurück. Auch ich bin Steinmetz. Als ich sieben Jahre alt war, starb mein Urgroßvater. An seinem Sterbebett sagte er zu mir: „Das machst weiter Minjung, ne?“. Ich antwortete: „Ja, mach ich Opchen.“ Wir hatten eine tolle Beziehung. Ich habe mich gerne um ihn gekümmert. Mit den Jahren habe ich einen Weg gefunden, mein Versprechen umzusetzen. Er ist mit 96 Jahren verstorben. Mein Großvater mit 94 Jahren. Beide haben mit 90 Jahren noch gearbeitet. Mein Vater ist jetzt mit 74 Jahren noch im Unternehmen. Wenn ich das hochrechne, habe ich noch rund 50 Jahre im Betrieb vor mir.

Die ganze Schulzeit über war mir klar, was ich werden möchte. Ich hatte Kameraden, für die das nicht klar war. Die haben nach dem Abschluss nicht gewusst, wo sie hinsollen. Für mich war es nicht so und das war beruhigend. Mein Vater wies mich darauf hin, dass ich vielleicht mal ein Praktikum woanders machen sollte, das habe ich dann auch gemacht, nur um dann festzustellen, dass mein Plan der bessere war. Ich habe meine Steinmetzlehre in Wolfsburg absolviert. Danach war ich in Schweden, Portugal und China, hab an der Frauenkirche in Dresden gearbeitet und habe meinen Meister gemacht, aber habe nie den Bezug zu Lübeck verloren. Aber es war nie so, dass meine Familie mich in diese Richtung gedrängt hat. Ich hätte immer auch etwas anderes machen können. Und ich habe auch vieles ausprobiert. Seit ich 13 Jahre alt war, habe ich immer gearbeitet, viel in der Gastronomie, in der Kneipe, bei McDonalds oder im Kino.

Mein Sohn ist neun Jahre alt und möchte Forscher werden. Da steht niemand vor ihm und sagt: Du musst aber Steinmetz werden. Aber natürlich ist es so, dass Familientradition verpflichtet. Man hat die Pflicht, zumindest darüber nachzudenken. Mein Urgroßvater und mein Vater haben viel Ahnenforschung betrieben. Wir hatten vor Kurzem ein Familientreffen in Luxemburg bei einem Teil der Familie. Das bedeutet mir viel. Wir haben in der Familie über 8 verschiedene Nationalitäten und fühlen uns alle als echte Europäer. Es gibt mir Kraft zu sehen, wie die ganze Familie existiert. Mein Urgroßvater Karl Wolf war Kaufmann.

Anfang des letzten Jahrhunderts waren wir zu hundert Prozent ein Grabmalbetrieb. Bis in das 19. Jahrhundert hinein war das Grabmal noch nicht so etabliert. Es haben sich nur die Patrizier bestatten lassen. Und für die hat meine Familie damals Grabmäler errichtet. Das waren sehr große Gruften. Deswegen war der Betrieb eher ein Grabmalbetrieb. Mit der Lutherübersetzung wurde das Grabmal für mehr Menschen interessant. Man wollte etwas hinterlassen. Dann kam später die Industrialisierung, und das Grabmal wurde für mehr Menschen erschwinglich. Mein Ur-Großvater dachte sich dann: „Ich kann auch Grabsteine verkaufen“. Er kaufte drei Grabmalbetriebe. Einen verlor er im Ersten Weltkrieg, einen während der Währungsreform und den wichtigsten behielt er.

Der Naturstein ist über die Hansewege nach Lübeck gekommen. Das ist eine Tradition, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht. Wir reden immer von den Gotlandplatten, die aber zu 90 Prozent Ölandplatten waren, die von den Gotlandfahrern in die Hansestädte gebracht wurden. Die Fahrer sind mit Fässern voll Salz, Wein, Fisch nach Gotland gefahren, um zu handeln und sind mit Fellen wieder zurückgekommen. Ein Fass Wein ist aber deutlich schwerer als ein Fass Fell. Sie hatten keinen guten Tiefgang und konnten schlechter navigieren. Deswegen haben sie an der Insel Öland Halt gemacht und haben sich den Ölandstein als Gewicht mit auf das Schiff genommen. Wieder zu Hause waren die Menschen begeistert. Die Steine waren günstiges Baumaterial. Die Händler haben dann angefangen, mit Ölandplatten Handel zu treiben. Lübeck ist also sozusagen mit Kielballast gebaut.

Wenn man in einem Familienbetrieb arbeitet, geht es immer um das Gleichgewicht zwischen Tradition und Zukunft. Ich habe eine Zeit lang mit meinem Großvater und meinem Vater zusammen im Betrieb gearbeitet. Mein Vater ist immer schon mein Partner. Als mein Vater vor Jahrzehnten mit der Idee in die Firma kam, Computer anzuschaffen, meinte mein Großvater noch: „Diesen Schiet kannst du bei dir zu Hause machen, aber nicht in der Firma.“ Solche Momente habe ich mit meinem Vater nie gehabt. Mein Vater ist mein bester Partner. Wir sind nicht immer einer Meinung, aber wir finden immer einen gemeinsamen Weg. Es gibt nichts, was er blockiert. Wir sind ein moderner Traditionsbetrieb. Das heißt, wir haben mittlerweile eine papierlose Buchhaltung, kommunizieren über digitale Endgeräte – mein Vater trägt diese Entwicklungen alle mit. Das ist nicht selbstverständlich.

Auf der anderen Seite haben wir unsere Steinmetze, die mit Hammer und Meißel arbeiten. Warum? Weil sie es können. Es gibt nicht für jede Arbeit eine Maschine. Deswegen brauche ich das Traditionshandwerk. Als wir mit der Digitalisierung begannen, hatten viele Mitarbeiter Angst, dass wir den Respekt vor dem Handwerk verlieren, dass wir die Tätigkeiten wegrationalisieren würden. Wir mussten den Menschen zeigen, dass wir Respekt vor ihrer Leistung haben. Mir wurde immer beigebracht, dass meine Freiheit dort endet, wo die Freiheit anderer beginnt. Ich werde nie vergessen, wie mein Vater mir das mit drei sich überschneidenden Kreisen erklärt hat. „Guck dir das mal an, das bist du, deine Eltern und deine Schwester. Da gibt es Schnittmengen. Und in diesen Schnittmengen hast du respektvoll zu sein.“ Wer sich verwirklichen will, kann das nur in einem respektvollen Rahmen tun. Wenn ich mich respektvoll zu der Persönlichkeit und der Leistung anderer Menschen verhalte, habe ich die beste Umgangsform gefunden. Wie man es nicht tun darf, sieht man in den sozialen Medien, wo jeder Respekt verloren gegangen ist.

In solchen Momenten denke ich an meinen Vater und die drei Kreise. Ich habe von ihm auch noch einen Aufkleber, den er mir mal ins Zimmer geklebt hat, nachdem wir einen Streit hatten. Da steht drauf: »Ich mag dich auch, mein bester Freund.« Das finde ich auch heute noch schön für eine Beziehung zwischen Vater und Sohn. Heute ist in meinem alten Kinderzimmer die Bauabteilung unseres Betriebs. Am Fenster klebt immer noch dieser Aufkleber. Keiner darf ihn abnehmen.

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