“Liebe Miss Sa Pa. Deine Augen. Beginnt man so einen Brief? Ich möchte Dir schreiben, weil Du ein Teil meines Lebens geworden bist. Vielleicht so? Ich erinnere mich an dein Kleid. Und die Farbe des Stoffes. Schwarz. Manchmal blau. Schwarzes Blau. Dunkler Glanz. Schön. Eine Erinnerung. Ein Gewinn und ein Verlust. Am 23. Dezember 1995 fuhr ich mit einigen Studenten der Kunstakademie Hanoi nach Lao Cai. Später nach Sa Pa. Stickereien. Schöne handgewebte Stoffe. Dort versuchten wir zu erfragen, wie der Glanz auf den Stoffen entsteht. Wissen. Beschäftigung mit dem Verlust. Beobachten. Portraits. Landschaften. Das einfache und harte Leben der ethnischen Minderheiten Vietnams. Der Unmut hinsichtlich der fehlenden Infrastruktur wird durch selten Gesehenes beschwichtigt Die Mädchen der Bergdörfer gehen täglich ins Tal hinunter, um etwas zu verkaufen. Der Fußweg dorthin führt durch ein unwegsames Gelände und dauert einige Stunden. Was sie verkaufen möchten, transportieren sie in geflochtenen Körben. Ein Holzbalken manchmal. Oder vielleicht Stoffe. Bambus. Der Weg. Regen. Zehn Kilometer oder mehr. Es ist nicht einfach zu schätzen. Was ist ein Kilometer? Was sind Schuhe? Wie kalt ist es? Ich habe gesehen, wie ein jüngeres Mädchen nach dem Aufgang der Sonne in das Tal hinunter gegangen ist. Nein. Ich habe gesehen, dass sie am Morgen bereits unten war. Es klingt nur schöner, wenn ich sage: nach dem Aufgang der Sonne. Den Aufgang der Sonne bemerke ich nicht. Er ist keine Notwendigkeit, auf die ich warte. Als ich das erste Mal in Vietnam war, war ich irritiert über die Dunkelheit. Ich bin einfach daran gewöhnt, dass es nachts Licht gibt. Schwierig also. Mir hat man in einer Schule das Lesen und das Schreiben beigebracht. Ich weiß ja gar nicht Deine Adresse. Was ist eine Adresse? Wo wohnst du? In Sa Pa. In der Nähe von Sa Pa. Das liegt im Nordosten Vietnams. Weit. Was ich dort wollte? Dort zu sein, war für mich weniger notwendig, als für Dich Dein täglicher Gang ins Tal. Ich wollte nur dagewesen sein.Am 24. Dezember 1995 regnete es in Sa Pa. Ein aufgeweichter Marktplatz. Brauner Lehm. Gemüse auf einem Stück Zeitungs-Papier. Matschig. Schweinehaut und Regen. Es gab frittierte Reisklumpen und Lautsprecher- durchsagen. Das Brennholz wurde feucht. Parteiparolen in einer auch den ethnischen Minderheiten fremden Sprache. Die alten Frauen hatten Plastikplanen um ihre Schultern gehängt. Die bestickte Kleidung, der Schmuck und die handgewebten Tücher sind beliebte Kaufobjekte der Ausländer.„How much?“ Und auf der anderen Seite: „Juliihh ok?“Es war kalt. Gearbeitet haben wir nicht. Die Studenten der Hochschule für Kunst Hanoi äußerten ihr Unbehagen hinsichtlich des Portraitierens der ethnischen Minderheiten. Die für ihren Studienabschluss erforderlichen Skizzen, Aquarelle und Ölbilder des einfachen Lebens fertigten sie in einer Nacht nach meinen in Sa Pa gemachten Fotos an. Sich erinnern. Später am Abend kaufte ich handgewebten Stoff. Dreißig Meter. Falsch. Ich habe den Studenten Geld gegeben und sie gebeten, ihn für mich zu kaufen. Westlicher Reflex. Für sie ist der Preis niedriger. Wozu brauchst du ihn, fragten sie. Für Zeichnungen, habe ich geantwortet. Beobachten. Die Reisen. Das Unbehagen. Und die Erkenntnis, dass Kunst nicht wärmt, sollte uns dazu führen, zu überlegen, in welchen Zusammenhängen sie stattfindet. Die Grenzen der Kunst sind erreicht. Notwendig. Wasser tragen.Meine Erkenntnisse. Das Wasser. Ich möchte die handgewebten Stoffe beschreiben und bemalen. Vier bis sechs Stunden brauchen die jungen Mädchen, um zwei Eimer Wasser in die Bergdörfer zu tragen. Wasser, um zu leben. Damit es im unwegsamen Gelände nicht überschwappt, legen sie Tannenzweige auf die Wasseroberfläche. Das bricht die Bewegung. Eine andere Kunst. Fähigkeiten.Was werde ich beschreiben auf den dreißig Metern Stoff, die eine Frau unter extremen Bedingungen hergestellt und verkauft hat, damit sie und ihre Familie etwas zu essen kaufen kann und eine andere Frau Kleidung daraus herstellen wird? Dramatischer: Damit sie überleben.Die Kälte in den Bergen ist grauenvoll. In einigen Lehmhütten gibt es Feuer- stellen und warmen Tee. Ich denke häufig daran zu gehen. Wo bekommen wir einen heißen Kaffee? Ein Junge zeigt uns eine blaue Plastikschultasche mit einem Unicef-Emblem. Ich denke an den handgewebten Stoff. Mitleid und Macht. Der Stoff ist für meine Zeichnungen. Das Unicef-Emblem: Siebdruck.Helfen. Geben. Teilen. Ich erinnere mich an eine Geschichte, die von jenem Mann erzählt, der sein Gewand teilte und es einem Frierenden gab. Martin. Später war er heilig. Am 24. Dezember in Sa Pa warten die Katholiken auf die Mitternachtsmesse. Die Hostie, der Leib Jesu war wahrscheinlich das einzige, was sie an diesem Tag aßen. Jesus Christus und der heilige Martin. Macht des Stärkeren. Sicherheitsabstand.Später. Die dreißig Meter Stoff riechen muffig. In Hanoi ist es nicht so kalt. Wir reden über unsere Arbeit in Sapa. Für die Hanoier Studenten war der Besuch der Bergregionen Vietnams eine Erfahrung mit existentieller Armut, die sich ihnen zeigt wie daheim der Reichtum der Ausländer.Die Ausländer, die immer mehr besitzen, als sie zum Leben benötigen. Macht und Mitleid und Überfluss. Und ihre Verweigerung hinsichtlich der traditionellen Kunst. Und von mir wird verlangt, Kleidung für die Kinder in Sa Pa bei den Ausländern in Hanoi zu sammeln. Das wird auch für sie einen erneuten Besuch einfacher machen. Es beruhigt.Ich suche im Gebäude der ehemaligen Fabrik nach einem Raum für die dreißig Meter Stoff. Auf einem prähistorisch anmutenden Webstuhl, bei Wind und Wetter hergestellt, möchte ich ihn in einem großen hellen Raum zeigen, damit durch die Präsentation sein Wert gewürdigt wird. Gemessen an der menschlichen Arbeitszeit ist er wertvoll. Handarbeit. Produktion. Verluste. Interkulturell im Niemandsland. Nur die Heimatlosen füllen es manchmal aus.Es wäre schön gewesen, den Stoff zu begreifen und während des Abschreitens die Zeichnungen und die auf ihm befestigten Daten, die die Dauer der Herstellung kennzeichnen, zu sehen. Und den Geruch. Es ist nur schon wieder vorbei.Es gibt diesen Raum nicht mehr. Er ist nicht mehr begehbar. Vorhanden nur noch als ein belichtetes Stück Papier in einer musealen Vitrine. Die Möglichkeiten der Kunst sind begrenzt. Zeigen. November 1996.Der handgewebte Stoff aus Sa Pa liegt ebenfalls in einer Vitrine. Ich habe ihn immer noch nicht bezeichnet.März 2015 in Trondheim. Norwegen. Wir arbeiten an einem Ausstellungsprojekt mit Studenten der KIT. Plötzlich erinnere ich mich an Dich. Ich erinnere mich auch an diese alte Arbeit über die Werte. Betrachte die 30 Meter Stoff. Ich frage mich, für was und warum ich ihn bis heute aufgehoben habe.Ich konnte ihn nicht bezeichnen. 19 Jahre ohne Zeichnungen. Der Brief an Dich, „Dear Miss Sa Pa“, ist auch noch nicht abgeschickt. Wie alt bist du jetzt? Hast Du jetzt eine Adresse? Auf jeden Fall. Es wird höchste Zeit.“