“Es ist so, dass ich als junger Mann in Stockholm gelebt habe, um dort mit einer Stockholmer Band Rockmusik zu machen. Ich hatte tagsüber viel Zeit, denn meine damalige Lebensgefährtin war tagsüber im Kindergarten beschäftigt. Und dann bin ich auf gut Glück in die Königliche Bibliothek gegangen, um mir die Zeit zu vertreiben. Dort fand ich zufällig Thomas Mann auf Deutsch. So habe ich zum ersten Mal Buddenbrooks gelesen. Als ich fertig war, dachte ich: Das war das Schlimmste. Nie wieder. Das ist ja sowas von schrecklich, wie dieses Kind zugrunde geht, dieser kleine Hanno Buddenbrook. Wie kann man einem Kind das antun, dass man es so übersieht? Mit dem Gefühl habe ich über 20 Jahre gelebt. 1995 kam der damalige Leiter des Buddenbrook-Hauses, Herr Wißkirchen auf mich zu und sagte: „Dich interessiert doch die Verbindung zwischen Literatur und Stadt. Ich glaube, ich könnte dich im Buddenbrook-Haus gebrauchen.“ Ich sollte eine Dauerausstellung zum Roman Buddenbrooks wissenschaftlich kuratieren. Also musste ich dieses Buch nochmal lesen. Da kam der Durchbruch. Weil ich das traurige Kind nicht mehr gefunden habe. Ich habe stattdessen den Erzähler gefunden. Von dem Tag an war ich ein Thomas Mann Fan. Jetzt bin ich mit dem Museum seit 25 Jahren eng verbunden.Im Haus gibt es einen bestimmten Platz im ersten Obergeschoss. Wenn ich dort aus dem Speisesaal mit den Götterfiguren schaue, dann stehe ich an einem Ort, der gleichzeitig ein Ort ist, an dem alle Mitglieder der Familie Mann entweder gestanden haben, noch stehen oder auch wieder stehen werden – weil die Familie Mann ja weiter lebt. Sie kommen zu Besuch und schauen aus dem Fenster hinaus und sehen vor sich die obere Mengstraße. Auf der gegenüberliegenden Seite sehen sie die Linden und dahinter die Marienkirche. Dieser Blick, den sie haben, ist derselbe, den die Familie Buddenbrook hat, wenn sie bei sich zum Beispiel das Einweihungsfest feiert. Und die Figuren, sagen wir Tony oder Christian, schauen aus diesen Fenstern hinaus. Und jetzt stelle ich mich da hin, und dann weiß ich nicht, an wen ich eigentlich denke. Denke ich an Tony oder denke ich an Tante Elisabeth, die ein Vorbild für Tony gewesen ist? Es ist ein Ineinander von realer und erzählter Stadt. Die erzählte Stadt nimmt Bezug auf ein Lübeck, das um 1900 existierte. Jetzt lebe ich aber in der heutigen Stadt. Die heutige Stadt Lübeck ist zu einem erheblichen Teil der Stadt von 1900 ähnlich, weil sich baulich nicht viel verändert hat. Die kleinen Linden haben schon 1834 da gestanden. Im Roman schauen sie die Mitglieder der Familie Buddenbrook an. Jetzt gucken sie mich an. Dieses Ineinander der Ebenen ist etwas, das mein Lebensgefühl in der Stadt ausmacht. Bin ich jetzt eigentlich in der Figurenwelt oder Beobachter der Romanwelt? Oder bin ich jetzt jemand, der sich aus der geschichtlichen Ebene heraus die Themen anguckt? Das geht in meinem Leben oft parallel, aber eben manchmal auch ineinander. Wenn ich an diesem Fenster stehe, dann kommt etwas ins Schweben.Ich bin 1982 von Hamburg nach Lübeck gezogen. Ich hatte keine Ahnung von der Stadt. Die Familie meiner ersten Frau ist schon sehr lange mit der Stadt verwoben. Ich lebe jetzt schon 40 Jahre in Lübeck. Wenn mich jemand fragt, sage ich manchmal: Ich lebe nicht in einer alten Stadt, sondern in einem Mythos. Wir Lübecker sind sehr fokussiert auf das Zentrum: der Status als Weltkulturerbe bestimmt unsere Wahrnehmung. Die Postkarten zeigen immer unsere Altstadt. Wenn eine Stadt stark in der Vergangenheit verwurzelt ist, kann das eigene Zeitgefühl verloren gehen. Das ist die Gefahr. Manchmal denke ich, die Stadt muss den Mythos hinter sich lassen.Die Menschen, die in Manns Lübeck auftauchen, sind die letzte Generation der alten Lübecker. Heute gibt es diese Menschen nicht mehr, das Bild des ehrbaren Kaufmanns verschwindet. Es hat sich verändert. Viele Familien ziehen her, die gerne in Hamburg sind, aber Lübeck schön finden und sich hier Häuser kaufen. Deswegen sind die Preise in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Das neue Lübeck hat mit dem alten kaum noch etwas zu tun, die baulichen Reste, das Weltkulturerbe ist eine dingliche Verbindung zwischen Damals und heute. Die Orte und Menschen der Vergangenheit leben nur durch das Weitererzählen. Ich bin vielleicht wie ein Bindeglied in diese alte Welt. Meine Freunde aus Hamburg fragen mich manchmal: Wie lange willst du denn noch in deinem Museum leben? Aber heute kann ich sagen: Das ist meine Stadt. Ich habe mich langsam angepirscht.“
Persönliche Facts