Intro
Hallo ich bin Clara, ich stehe hier gerade vor der Markthalle Neun in Berlin-Kreuzberg und warte auf Dimitri Hegemann. Wenn er pünktlich ist, müsste er in drei Minuten da sein. Ich bin ein bisschen aufgeregt, aber ich glaube, das wird ein nettes Treffen. Wir haben schon ein paar Mal telefoniert, und er war immer sehr freundlich. Trotzdem bin ich etwas nervös, weil ich ihn schon öfter in verschiedenen Medien gesehen habe, zum Beispiel im Film Capital B – Wem gehört Berlin? und als wichtiger Teil der Techno-Szene in Berlin. Ich hoffe, herauszufinden was Berlin für ihn bedeutet und wie er das Thema Freiheit sieht. Er lebt schon sehr lange in Berlin und hat wahrscheinlich viele der Umbrüche hier miterlebt. Ich bin auch sehr gespannt, welchen Gegenstand er mitgebracht hat.
Interview
Wir sitzen nach unserem Mittagessen nun hier in Dimitri Hegemanns Büro. Vor mir sehe ich eine blaue Couch, und wir sitzen an einem sehr großen Holzschreibtisch. Neben mir sitzt Dimitri Hegemann.
Dimitri, wie würdest du deinen Beruf beschreiben?
Im Moment bezeichne ich mich als Kulturarbeiter oder Kulturschaffender. Ich stehe hinter der Bühne, nicht auf der Bühne, und mein Job ist es, Dinge in Bewegung zu halten.
Welche Charaktereigenschaften braucht man dafür?
Leidenschaft, Risikobereitschaft und dennoch einen klaren Blick, damit du dich nicht zu stark verrechnest bei einer Produktion. Meine Leidenschaft hat sich im Laufe der Jahre besonders auf Räume bezogen. Ich hatte ein gutes Händchen für Räume, die eine besondere Qualität haben. Eine meiner Herausforderungen ist es, Industrieruinen in Kulturräume zu verwandeln. Hier sind wir in meiner aktuellen Arbeit, einem alten Kraftwerk in Berlin-Mitte, das verschiedene Welten beherbergt – darunter den Technoclub Tresor und eine riesige Halle mit 5000 Quadratmetern Fläche. Hier fühle ich mich sehr wohl.
Hast du hier dein Lebensziel erreicht?
Ja, für dieses Leben schon. Im nächsten Leben soll es dann etwas anderes geben, aber ich drohe auch mit Wiedergeburt, also könnte es weitergehen.
Du hast einen Gegenstand mitgebracht, einen Teil der Tür des alten Tresors. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
Ja, das stimmt. Es handelt sich um einen Türriegel aus dem alten Tresor, der ursprünglich Teil einer jüdischen Bank, der Wertheimbank, in den 1920er Jahren war. Während des Dritten Reichs wurde die Bank arisiert und der Tresor verschwand für viele Jahre in Vergessenheit, weil er zwischen den Mauern im Ostteil Berlins lag und nicht zugänglich war. Durch Zufall entdeckten Freunde und ich diesen Raum wieder und erweckten ihn zu neuem Leben – das war der Beginn des Tresors als Club. Der Tresor war mehr als nur ein Raum, er war ein Symbol für den Aufbruch und die Musik des Techno. Die angelehnte Tresortür stand dabei sinnbildlich für die Aufforderung an Entscheidungsträger, Räume für die Jugend zu öffnen.
Wie war die Zeit damals in Berlin für dich, als du aus deiner ländlichen Heimat in die Großstadt kamst?
Es war ein gewaltiger Kontrast. Ich kam aus einem kleinen Dorf mit 700 Einwohnern, wo ich stark in die Gemeinschaft integriert war – Messdiener, Fußball, Schützenbruderschaft. Doch irgendwann fühlte ich mich dort fehl am Platz und zog nach Berlin. Die Stadt hat mich überwältigt: die großen Hinterhöfe, die Einschusslöcher in den Häusern, die Überreste des Krieges. Das hat meine Leidenschaft für Raumforschung geweckt. Berlin war wie eine Insel für mich, ein Ort voller Brüche, Geschichte und neuer Möglichkeiten. Ich traf auf viele Gleichgesinnte, die ähnlich dachten, und das öffnete mir die Augen für ein völlig neues Denken.
Was hast du in Berlin entdeckt, das deine Sicht auf die Welt verändert hat?
In Berlin habe ich völlig neue Denkweisen und Musikstile kennengelernt, die mich faszinierten. Gruppen wie „Einstürzende Neubauten“ und „Sprung aus den Wolken“ haben meinen Musikgeschmack völlig verändert. Plötzlich wurde Krach zu Musik, und Begriffe wie „geniale Dilettanten“ inspirierten mich. Das führte mich dazu, das Festival „Berlin Atonal“ ins Leben zu rufen, das bis heute existiert. Es war eine Zeit voller neuer Ideen und Möglichkeiten, die mich geprägt hat und die ich meinen Eltern nur schwer erklären konnte. Sie verstanden meine Begeisterung für diese neue Welt nicht, aber für mich war es eine unglaublich bereichernde Erfahrung, die mich in Berlin fest verwurzelt hat.
Bedeutete die Zeit in Berlin für dich Freiheit?
Ja, definitiv. In meinem Dorf war ich oft derjenige, der für Veränderungen verantwortlich gemacht wurde, die die Gemeinschaft nicht wollte. In Berlin hingegen erlebte ich eine ganz andere Art von Freiheit. Besonders beeindruckend war für mich die Möglichkeit, im Westteil der Stadt meine Meinung frei zu äußern, zu reisen und Dinge zu tun, die für Menschen im Ostteil nicht möglich waren. Diese Freiheit des Denkens und Reisens hat mein Leben stark geprägt. Als ich 60 wurde, fragte mich jemand, was das Wichtigste in meinem Leben war, und ohne zu zögern antwortete ich: Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie. Das sind die Werte, die mich immer begleitet haben.
Welche Rolle spielte Freiheit bei der Gründung des Tresors in Berlin?
Der Tresor bot mir eine enorme Freiheit. Ich konnte mitten in Berlin, in einer alten Stahlkammer am Leipziger Platz, einen Club eröffnen – etwas, das in anderen Städten wie London oder Paris unmöglich gewesen wäre. Berlin hatte keine Sperrstunde, was es uns ermöglichte, die ganze Nacht durchzufeiern und eine völlig neue Clubkultur zu entwickeln. Diese Freiheit, Neues zu schaffen und den Raum zu nutzen, den die Stadt bot, führte dazu, dass Berlin nach dem Mauerfall ein neues, aufregendes Image bekam. Viele Menschen nutzten diese Freiheit, um ihre Visionen umzusetzen, was Berlin nachhaltig geprägt hat.
Was ist von dieser neuen musikalischen Epoche in Berlin bis heute geblieben?
Vieles. Berlin hat heute eine florierende Clublandschaft mit 200 bis 250 Orten, die sich der elektronischen Musik widmen. Diese Nachtkultur hat eine bedeutende wirtschaftliche Wirkung – 2019 wurde der Umsatz auf 1,45 Milliarden Euro geschätzt. Darüber hinaus hat sie zehntausende Jobs geschaffen, vor allem für Studierende. Die internationale Anerkennung, die Berlin dadurch erhielt, zieht Menschen aus aller Welt an. Diese offene und tolerante Stadt bietet viel Raum für Kreativität und Begegnungen. Das ist ein Mindset, das bis heute lebt, obwohl sich die Zeiten verändert haben und Berlin teurer geworden ist. Aber für mich und viele andere bleibt Berlin eine Stadt voller Möglichkeiten und Freiheit.
Inwieweit hat dich die Zeit in den 90ern, als du den Tresor gegründet hast, und die Freiheit und der Frieden, den du da erlebt hast, bis heute geprägt?
Ich bin in meinem Fachbereich geblieben und habe erkannt, dass die Erfahrungen, die wir hier in Berlin gemacht haben, auch in andere Orte übertragen werden können. Ich habe gesehen, wie friedlich die Clubszene ist, wie gering die Kriminalitätsrate ist, und das hat mich dazu inspiriert, diese Erkenntnisse weiterzugeben. In anderen Städten und Gemeinden könnten subkulturelle Räume mit kuratierten Programmen geschaffen werden, die jungen Menschen eine Perspektive bieten. Wir haben sogar eine Akademie, in der wir junge Macher:innen einem dualen Studium ausbilden und ermutigen, etwas Eigenes zu schaffen. Diese Art von Räumen schafft Bleibeperspektiven und fördert eine stärkere Identifikation mit dem Ort. Wenn solche subkulturellen Zellen im ganzen Land entstehen, können sie verhindern, dass die junge Intelligenz in Städte abwandert und dadurch ein Vakuum entsteht, das von rechten Mainstream-Ideologien gefüllt wird. Die Räume und das Potenzial sind da – es braucht nur Unterstützung und den Mut, diese Projekte anzugehen.
Und was bedeutet Freiheit für dich persönlich?
Freiheit bedeutet für mich, dass ich sagen und tun kann, was ich möchte, ohne dafür sanktioniert zu werden – natürlich mit gewissen Einschränkungen. Es gibt klare Grenzen, etwa bei rassistischen Parolen oder unangemessenem Verhalten, aber innerhalb dieser Grenzen sollte es möglich sein, sich frei auszudrücken und zu handeln. In Berlin ist das oft möglich, zumindest bis zu einem gewissen Punkt.
Dimitri, ganz ganz herzlichen Dank dir, dass du dir die Zeit genommen hast.
Ja, schön, dass du danach gefragt hast. Und viel Glück weiterhin.
Reflexion
Ich bin jetzt wieder zu Hause, nach einem sehr erlebnisreichen Tag. Wir haben uns in der Markthalle Neun getroffen, wo Dimitri noch ein bisschen Obst gekauft hat. Dann waren wir italienisch essen und sind zum Kraftwerk gefahren, seiner großen Halle, die er ausgebaut hat. Dort hat er mir die verschiedenen Floors gezeigt, den Plattenladen und wir konnten in seinem Büro länger darüber reden, wie er es geschafft hat, an diesen Punkt zu kommen, und was der Wandel in der Stadt für ihn bedeutet. Am Ende waren wir noch kurz auf einer Party, die gerade begann. Ich habe großen Respekt vor Dimitri Hegemann und bewundere, wie er es geschafft hat, so viel auf die Beine zu stellen und dabei immer für seine Werte einzustehen. Sein Einsatz für Subkultur trägt maßgeblich zur Förderung von Demokratie bei, und das ist wirklich beeindruckend.
Persönliche Facts