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Als meine Großeltern 1964 ihre Hochzeitsreise antraten, waren sie bereits zwei Jahre verheiratet. “Früher hätten wir eine Reise gar nicht bekommen.“, sagt meine Großmutter. Ein Angebot über “Jugendtourist“ klang nicht nur interessant, sondern auch bezahlbar: 14 Tage Rundreise durch die sozialistischen Bruderstaaten mit Stop in Moskau, Sotschi und Kiew. “Das war auch ’ne Auszeichnung, diese Reise. Ich hab das ja beantragt im Betrieb.“, erzählt mein Großvater, der damals in der FDJ-Leitung seiner Arbeitsstätte saß. “Und bezahlen konnten wir’s auch. Wir haben beide gearbeitet, haben da gerade auch um einen Kühlschrank gekämpft.“, ergänzt meine Großmutter lachend. Beantragt, genehmigt, gepackt: Für das junge Paar geht es mit dem Zug von Rochlitz über Berlin nach Moskau. Die russische Hauptstadt beeindruckt sie mit den prachtvollen U-Bahnhöfen. Ellenlange Rolltreppen fahren sie unter die Erde, um die verzierten Stationen zu besichtigen. In den großen, schicken Kaufhäusern sehen sie Schaufenster vollgestopft mit ihnen unbekannten Waren. Auf dem Roten Platz stehen die beiden in einer langen Warteschlange, um im Mausoleum einen kurzen Blick auf den einbalsamierten Lenin zu erhaschen. “Stalin haben wir auch gesehen. Das war irgendwo hinter dem Mausoleum. Den konnte man auch angucken.“, berichtet mein Großvater heute. “Und weißt du noch, in der Warteschlange haben wir doch den FDJ-Sekretär getroffen.“, nickt meine Großmutter und erzählt von dem Zufallstreffen mit einem Bekannten, so weit weg von Zuhause. Es ist nicht die einzige Begegnung auf dieser Reise, an die sie sich noch heute erinnern. Gleich gegenüber vom Mausoleum, im weltberühmten Gum-Kaufhaus, trinken sie prickelnden Sekt, ein besonderer Moment. Als Andenken an ihre Reise kaufen sie im Gum in einem Kunstgewerbegeschäft eine kleine Miniatur. Ein silberner Sputnik-Satellit, mit vier dünnen Drahtbeinchen, fliegt über eine goldene Erdhalbkugel. Sein Schweif bildet drei Buchstaben: мир (russisch: Frieden). Die echte Sputnik war zum Zeitpunkt ihrer Reise schon längst in der Erdatmosphäre verglüht. Und auch von der Sputnik 2, mit tierischer Besatzung und der weiterentwickelten Sputnik 3, war nichts mehr übrig. Zumindest nichts Materielles, dafür Zahlen, Daten und Informationen, die die Weltraum- und Beobachtungstechnik revolutionierten. Kurz: Pures Wissen. Gut verstaut im Reisegepäck begleitet der kleine Satellit die beiden bei ihrer Reise. Von Moskau geht es mit dem Flugzeug weiter, ihr erster Trip mit einem Flugzeug. Das aber nicht allein, denn diese Reise durch die Sowjetunion ist eine geführte Gruppenreise. “Jugendtourist“ richtet sich vor allem an junge Bürger*innen der DDR. Auf der Zugfahrt zurück nach Berlin sitzen meine Großeltern in einem Abteil mit einem Lehrerpaar, das auch zur Reisegruppe gehört. “Die waren ’n bisschen älter. Aber waren auch aus Rochlitz wie wir.“, beschreibt meine Großmutter. Und mein Großvater fährt fort: “Und das ist das Beeindruckende an dieser Reise: Der Herr Seidel fragte mich dann, ob ich nicht studieren wollen würde. Und da sagte ich: Ich habe doch nur die 8. Klasse“. Ein Studium stand für meinen Großvater immer außer Frage. Als Kind flüchtete er mit seiner Familie aus Schlesien. Mitnehmen konnten sie aus der Heimat nichts. In der Dorfschule schaffte er es mehr schlecht als recht bis zur achten Klasse: “Eine Mutter, zwei Kinder, der Vater im Krieg geblieben. Unterstützung gab’s da nicht.“ Nach dem Verlassen der Schule überlegt er Tischler zu werden. Seine Mutter besorgt ihm schließlich einen Ausbildungsplatz beim Schlossermeister in der nächsten Kreisstadt. Und so arbeitet mein Großvater vor der großen Hochzeitsreise 1964 in einem Betrieb in der Hydraulik. Das Zusammentreffen mit dem Lehrerehepaar damals, ein großer Zufall. Das daraus entstandene Gespräch jedoch, lebensverändernd. Die Koffer von der Reise sind schon längst ausgepackt, da traut sich mein Großvater schließlich, wahrscheinlich auch bedingt durch gutes Zureden meiner Großmutter: Er bewirbt sich auf einen Vorbereitungskurs fürs Studium. Über ein Jahr Lehrgang steht ihm bevor, mit Mathe-, Deutsch- und Russischkursen, um das verpasste Schulwissen aufzuholen - Und das natürlich zusätzlich zur Arbeit im Betrieb. Bei seiner ersten Mathestunde erkennt er den Dozenten sofort: Es ist Herr Seidel aus dem Zug. “Nach dem Vorbereitungskurs bekam ich die Delegierung vom Betrieb zum Studium an der Ingenieursschule für Maschinenbau in Karl-Marx-Stadt. Das habe ich dem Lehrerehepaar zu verdanken. Ich hätte ja gar nicht den Weg gefunden.“ Heute, Jahrzehnte später, steht die Mini-Sputnik in einem braunen Holzschrank im Wohnzimmer meiner Großeltern. Für den unwissenden Betrachter ist sie wahrscheinlich ein verblasstes Symbol für ein Stück Raumfahrtgeschichte. Das Wissen von damals ist längst überholt. Meine Großeltern wird der Blick auf die Sputnik jedoch immer an ihre Hochzeitsreise erinnern und jenes schicksalhafte Treffen, das meinen Großvater zum Studium brachte. Fragt man sie heute nach ihren Werten für ein gutes Leben, dann ist Reisen ganz oben mit dabei. Denn Moskau war erst der Anfang. Wie ein kleiner Satellit schwirren sie noch heute durch nahe und ferne Länder. Und wenn sie zurück in der Heimat von ihren Erfahrungen erzählen, dann sind sie für mich der Inbegriff von “Reisen bildet“.

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Georg & Georgine
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