“Ich bin in Istanbul geboren. Als ich drei Jahre alt war, sind meine Mutter und ich nach Deutschland gekommen. Meine Mutter war alleinerziehende Türkin und in den Augen vieler Menschen vermeintlich modern, z. B. trägt sie kein Kopftuch und würde auch Alkohol trinken und theoretisch Schweinefleisch essen, wenn es ihr schmecken würde. Meine Mutter glaubt meines Erachtens an etwas Göttliches, verhält sich in den Augen vieler Deutscher aber nicht wie eine typische Muslima. In Deutschland haben wir zuerst in Oldenburg gewohnt und das Letzte, was ich dort erlebt habe, war „Offenheit“. Als wir dann nach Lübeck umgezogen sind, habe ich mich sofort in die Stadt verliebt und lebe jetzt schon sehr lange hier. Ich konnte mich sofort für vieles begeistern.Im Nachhinein würde ich sagen, dass ich einerseits sehr frei erzogen wurde. Ich durfte mit 16 Jahren schon lange und viel feiern, was für viele „türkisch erzogene“ Kinder nicht immer der Normalfall ist. Ich war auch viel auf Technopartys unterwegs. Es gab damals eine Partyreihe, die mein Freund veranstaltet hat, wo ich oft feiern war. Das war für mich die erste richtige Berührung mit Technomusik in Lübeck. Diese Partys waren mir und meinen Freund:innen sehr wichtig. Meine Mutter wusste davon und hatte selbst noch einen Flyer dieser Partys an ihrem Kühlschrank hängen. Sie hatte grundsätzlich nichts dagegen, dass ich feiere und viel Zeit mit Freund:innen verbringe. Ihr war es auch lieber, dass ich offen Alkohol trinke, als es zu verheimlichen. In anderen, teilweise irrationalen Bereichen war sie sehr streng und leider auch nicht sonderlich offen. Das lag aber vor allem daran, dass sie selbst gesundheitliche Schwierigkeiten hatte. Es ist für sie als junge Alleinerziehende nicht leicht gewesen. Meine Mutter hat mich mit 23 Jahren bekommen, mein Vater war 21 Jahre alt und hat den Kontakt zu uns kaum gehalten. Meine Mama kommt selbst aus schwierigen Familienverhältnissen. Sie ist der wichtigste Mensch in meinem Netz, aber eben auch der, mit dem es am meisten kracht. Es war nicht leicht für uns. Eben auch, weil einige Menschen ihr gegenüber nicht offen waren. Das fing bei der Wohnungssuche an. Wir hatten kaum Geld und das wenige Geld musste meine Mutter dann für eine Tagesmutter ausgeben. Wir konnten uns anstrengen, wie wir wollten, aber wir kamen aus unserer Bubble nicht heraus. Viele sind meiner Mutter mit Vorurteilen begegnet, weil sie türkisch und alleinerziehend war. Das muss so anstrengend gewesen sein, mit einem kleinen Kind ohne Familie und Freund:innen in einer fremden Stadt zu sein. Mit ihrer Arbeit konnte sie auch kaum ihren Freundeskreis ausbauen. Ich war bei uns eher die Person, die sich Freundschaften aufgebaut hat. Wir waren auch nie wirklich Teil der „türkischen Community“ hier. Das lag auch daran, dass ich in einer vermeintlich sozial angesehenen Schule war. In Lübeck war ich auf einem Gymnasium, an dem ich wenig Diversität sah und selbst erleben konnte. Wir hatten einen einzigen schwarzen Schüler auf unserer gesamten Schule, der irgendwann von der Schule abgegangen ist. Ansonsten wurde ich als Halbtürkin angesehen – das Diverseste, was es in der Klasse gab. Ich bin aufgefallen, auch weil die meisten meiner Mitschüler:innen Eltern hatten, die noch nicht getrennt waren und zusammen gelebt haben.Ich habe mich im Großen und Ganzen schon immer sehr deutsch gefühlt, wenn man das so sagen kann. Ich kam auch mit drei Jahren nach Deutschland und spreche mittlerweile nur sehr wenig türkisch. Wenn Leute mich fragen, wie ich mich als Türkin fühle, ist das schwierig. Es gibt etwas in mir, das sich zur Türkei hingezogen und damit vertraut fühlt, aber ich hatte vor allem damals kaum einen Bezug zum Land. Ich habe mich damals nicht mal getraut, ein Armband mit dem türkischen Auge zu tragen. Es gab einige Situationen, in denen ich gemerkt habe, dass die anderen mich ausgrenzen wollten. Ich hatte zum Beispiel mal eine 3 Minus für einen Aufsatz in Deutsch bekommen. Die Lehrerin hat meinen Aufsatz vor der Klasse zum Thema gemacht. Sie meinte, anhand meiner Arbeit würde man ja merken, dass ich zu Hause nur türkisch mit meiner Mutter sprechen würde. Viele in der Klasse hatten schlechtere Noten als ich, ohne dass dies überhaupt angesprochen wurde. Eine meiner deutschen Freundinnen hat damals zum Glück sofort den Mund aufgemacht und meiner Lehrerin gesagt, dass sie aufhören soll, sowas zu sagen. Es war toll, dass sie mit 13 Jahren den Mut dazu hatte, der Lehrerin Kontra zu geben. Nach dem Abitur habe ich in einer Wohngruppe mit Menschen mit Behinderung gearbeitet. Anschließend habe ich Erziehungswissenschaft studiert und bin in die soziale Arbeit eingestiegen. Heute arbeite ich mit Kindern und Jugendlichen zusammen sowie mit psychisch erkrankten Erwachsenen. Ich würde sagen, dass ich mich in viele meiner Klient:innen gut hineinversetzen kann, weil ich ähnliche Lebenserfahrungen wie sie gemacht habe. Auch bei mir lief nicht immer alles gut und leicht, jedenfalls nicht so, wie es angeraten und gewünscht wird. Ich bin den Familien und Menschen, die ich betreue, gegenüber sehr offen eingestellt. In den letzten sechs Jahren in meiner Arbeit habe ich gemerkt, dass ich mit so vielen verschiedenen Lebensgeschichten und Biografien konfrontiert werde, denen ich gegenüber auch offen sein möchte. Um Menschen überhaupt wertschätzen zu können, muss man offen sein und verschiedene Lebensmodelle und Entwürfe akzeptieren und tolerieren. Diese Überzeugung zieht sich durch mein ganzes Leben: Ich habe einen sehr unterschiedlichen Freundeskreis aus verschiedenen Bereichen meines Lebens. Und ich mache jetzt eine Therapie. Wenn man offen gegenüber anderen Menschen sein will, sollte man auch offen zu sich selbst sein.“
Persönliche Facts