Das Schälchen

Wert: Respekt
Autor: I.S. aus Lübeck

Gegen das Wegwerfen, gegen das unsinnige Konsumieren, gegen die Wertlosigkeit des Gebrauchten und die des nicht mehr ganz Neuen

In meiner kleinen Geschichte geht es um Respekt. Aber nicht um den Respekt, den einem Eltern, Lehrer oder konservativ und autoritär denkende Menschen in der Kindheit oder Jugend mit sauertöpfisch erhobenem Zeigefinger beibringen wollten. Es geht um die Art von Respekt, den man sich selber beibringt, weil man Wertigkeiten entdeckt und als Maßstab des eigenen Handelns annimmt.

Und es geht um eine kleine unscheinbare Schale, einen Pfennigartikel, ein Massenprodukt, wahrscheinlich in irgendeinem Land der dritten Welt zu niedrigsten Kosten produziert. Ein Maschinenerzeugnis mit der für diese Spezies eigenen technischen Perfektion in Form und Oberfläche. Versehen mit einem repetitiven Muster, dessen Anordnung produktionsbedingt weder zur Fläche noch zur Form irgendeinen Bezug aufweist. Kein Designartikel, aber eben doch ein Gegenstand mit einer sympathischen Ausstrahlung. Ein Ding, „was man ebenso hat“, um das man kein Aufhebens macht und von dem man eigentlich schnell nicht mehr weiß, warum, wieso und wo man es erworben hat. Ein Gegenstand, der eigentlich für mich überhaupt keine Bedeutung hat oder besser – und das wird sich gleich erklären – hatte. Und dennoch vermag er ganz anschaulich meine spezielle Art von Respekt vor der Welt zu erklären.

Betrachtet man den Gegenstand genauer, fallen mehrere feine, das Schälchen querende Bruchlinien auf. Diese feinen Linien erzählen Geschichten und – ja, sie laden den eigentlich banalen Gegenstand mit Bedeutungen auf. Zuerst einmal erzählen sie von einer Ungeschicklichkeit, von einem Sturz, bei dem das Schälchen in mehrere Teile zersprungen ist, dann aber nicht weggeworfen, sondern zur weiteren Verwendung wieder zusammengefügt, geklebt wurde. Würde sich der Wert einer Sache danach bemessen, wie viel Arbeit notwendig war, um ihn so herzustellen, wie wir ihn vorfinden, dann wäre das Schälchen jetzt, durch den Sturz und die anschließende Reparatur, deutlich wertvoller geworden.

Und: Was soll das? Soll das jetzt eine Geschichte sein über den Respekt vor einem dämlichen Schälchen? Nein, es geht um etwas anderes, um etwas viel Größeres. Es geht um den gesellschaftlichen Umgang mit Nachhaltigkeit, Wiederverwertung, Wiederverwendung und Reparierbarkeit. Ich komme aus einer Generation, in der ein Teil der Jugend (ich meine, es war deren bester Teil) über solche aus heutiger Sicht geradezu undenkbaren Sachen wie Konsumverzicht diskutierte, dann aber feststellen musste, dass sie in einer Gesellschaft lebte, in der der Konsum zum wichtigsten Wert, ja geradezu zur Pflicht eines jeden Bürgers wurde. Und wenn wir darüber diskutiert hatten, ob so etwas wie „Zewa Wisch & Weg“ ein richtiges Konzept sein könne, so mussten wir Jahre später mit ansehen, dass großzügige Belohnungen für das Wegwerfen ganzer noch fahrtüchtiger Autos vergeben wurden.

Und gegen all dieses stehen die feinen Linien auf meiner Schale: Gegen das Wegwerfen, gegen das unsinnige Konsumieren, gegen die Wertlosigkeit des Gebrauchten und die des nicht mehr ganz Neuen. Und für den Respekt: Vor der Umwelt, vor der Natur, vor dem Gebauten, vor Dingen, die noch funktionieren oder funktionieren können. Das alles aber ohne einen sauertöpfisch erhobenen Zeigefinger, denn es macht mir Spaß, das Schälchen zu betrachten, seine Narben zu fühlen und ganz leise subversiv dem Konsumzwang ein Schnippchen geschlagen zu haben.

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