Mein Schatz

Wert: Respekt
Autor: W.D.T. aus Lübeck

In der Vitrine war ein Porzellan-Service von KPM ausgestellt. Drei Essteller davon waren auf der Flucht dabei, auch ein vollständiges Jugendstil-Silberbesteck aus der Familie war gerettet worden.

Ich bin Baujahr 1961 und eigentlich in Kiel geboren. Nach der Scheidung meiner Eltern bin ich mit fünf Jahren mit meiner Mutter nach Lübeck gezogen. Nach meiner kaufmännischen Ausbildung in einem Kunstverlag, bin ich 1996 etwas ungeplant in der Gastronomie gelandet. Ich habe mit zwei Geschäftspartnern das Chapeau Claque übernommen, das ich ein Jahr später alleine weiter führte. Nach 19 Jahren Nachtarbeit in diesem Szene-Treff war es Zeit für eine Veränderung: nach einer längeren Renovierung wurde aus dem „CC“ die „Location 25“, „Die gute Stube in der Hartengrube“.

2007 wollten die Bremer Eigentümer das Haus in der Hartengrube 25-27 verkaufen und boten es mir zum Kauf an. Mit Hilfe von Bank und Familie rutschte ich in die Rolle eines Eigentümers, und damit begann mein Interesse an der Geschichte dieses Hauses. Im Lübecker Stadtarchiv konnte ich eine Akte der Baupolizei einsehen, die den Zeitraum von 1855-1922 abdeckt. Auch die alten Adressbücher waren eine Hilfe, andere wichtige Unterlagen sind 1942 beim Bombenangriff auf Lübeck verloren gegangen. 1563 erwarben die Stecknitzfahrer das Grundstück in der Hartengrube samt dem Vorderhaus und dem Stecknitzfahrer Gang mit seinen sechs Buden. Das waren Seefahrer, die Salz von Lüneburg nach Lübeck transportierten. Im Fronthaus befand sich ein Krug und darüber ein Saal. Dieses Gebäude erklärten sie zu ihrem Amtssitz, wo über lange Zeit die „Kringelhöge“ abgehalten wurde.

Zur Geschichte der Stecknitzfahrer gibt es zahlreiche Unterlagen. 1844 endete das Amt der Stecknitzfahrer und das Grundstück wurde veräußert, ein Amtsbruder führte den Krug noch weiter. 1903 war das Gebäude so baufällig, dass das Haus und der Gang mit seinen Buden abgerissen wurde. Die Ratzeburger Aktienbrauerei ließ 1904 das jetzige Gebäude samt einem Hinterhaus errichten, in dem sich für einige Jahre ein Tanzsaal befand. Es war dem damaligen Bauamt wichtig, auf diesen historischen Ort hinzuweisen, daher der Name an den Seitenfronten „Altes Stecknitzfahrer Amtshaus“ und die beiden Figuren über dem Eingangsportal – der alte und der junge Stecknitzfahrer – geschaffen von dem Künstler Cr. Cuwie. Das heutige Gebäude erhielt erst den vorläufigen Denkmalschutz, später wurde es als Denkmal eingetragen. Als ich 2016 mit der Renovierung der Gaststätte begann, wurden die Außenfassade des Hauses, die Beschriftungen und die zwei Figuren renoviert bzw. erneuert. Der alte Stecknitzfahrer, den ich nur kopflos kannte, bekam nach alten Vorlagen ein neues Haupt. Die Abformung und den Guss der Skulpturen hat der Künstler Sven Schöning gefertigt; ermöglicht wurde es durch die Lübecker Possehl-Stiftung. So kam ich auch mit dem „Verein der Stecknitzfahrer e.V.“ in Kontakt. Am 11.11.2016 wurden die beiden Figuren von dem Ältermann Herrn H. Haase und Frau Cuwie, der Urenkelin des Original-Bildhauers, feierlich enthüllt. Viele Nachbarn wohnten diesem Ereignis bei.

Zu den Stecknitzfahrern hat sich eine erfreuliche Verbindung entwickelt. Gerade bei dem kürzlichen HanseKulturFestival in unserem Viertel haben mich deren Männer toll unterstützt. Geschichtliches Interesse war bei mir schon früh vorhanden, geweckt durch den Heimatkundeunterricht, in dem auch damals schon von dem Salztransport auf der Stecknitz berichtet wurde. Sicherlich kommt mein Interesse aber auch dadurch, dass beide Familienteile väterlicher- wie mütterlicherseits Flüchtlinge aus Pommern und Ostpreußen waren.

Meine Mutter wurde in Berlin geboren. 1938 wurde ihr Vater nach Kolberg versetzt und so zog die Familie dorthin. Das Ostseebad Kolberg war ein beschaulicher Kurort und eine Garnisonsstadt mit bedeutender Geschichte. Dort wurde auch mein Vater geboren. Die Stadt hatte bis Anfang 1945 keine Bombenangriffe erlebt, aber viele Ausgebombte oder Schutzsuchende aufgenommen. Seit dem Winter 1944 kamen tausende Flüchtlinge aus den Ostgebieten, die vor der russischen Armee flohen, mit der Bahn, per Schiff oder dem Treck nach Kolberg. Sie hofften, von hier aus in den Westen zu kommen.

Die Stadt hatte ursprünglich an die 30 000 Einwohner und schwoll nun auf über 100.000 an. Meine Mutter wurde wie viele andere Jugendliche auch zum „Kriegshilfsdienst“ eingesetzt. Schilderungen dieser dramatischen Zeit kamen in vielen Erzählungen bei Familien- oder Freundestreffen zur Sprache. Ich lauschte dem Ganzen als Kind gespannt zu, wollte immer mehr davon hören. Rückwirkend betrachtet, war es für eine sensible Kinderseele vielleicht nicht ganz so geeignet. Als die „Wilhelm Gustloff“ am 30.1.1945 in der Ostsee mit über 6000 Flüchtenden an Bord torpediert wurde und sank, kamen einige Überlebende mit Schnellbooten nach Kolberg. Meine Mutter hatte sie zu betreuen und hörte von ihrem Schicksal; da stand für sie fest, die Heimat nicht auf einem Schiff zu verlassen.

Im Februar ’45 waren die Verwandten aus Ostpreußen nach dramatischer Flucht in Kolberg eingetroffen, teils reitend über das gefrorene Haff, teils den Schlitten gegen einen kleinen Jagdwagen eingetauscht habend. Mit diesem verließen sie am 3. März mit fünf Personen Kolberg. Meine Mutter fuhr mit dem schwer beladenen Rad nebenher und erreichte nach Wochen am 1. Mai Ostholstein. Mein Vater, gerade 17 geworden, wollte mit seiner Mutter auf ein im Hafen liegendes Schiff, doch die Militärpolizei (Kettenhunde) ließen ihn nicht durch, da er ja die Stadt verteidigen könnte.

Meine Großmutter erzählte oft die Geschichte, dass eine Nachbarin sie auf dem Schiff angesprochen hätte und sagte: “Unser schönes Kolberg.“. Meine Oma drehte sich um, sah die brennende Stadt, in der sich noch ihr Jüngster befand – und wurde ohnmächtig. Die Stadt war inzwischen von der russischen Armee eingekreist und wurde in den 14 Tagen der Belagerung zu fast 90 Prozent zerstört. Kolberg wurde so lange gehalten, damit möglichst viele Flüchtlinge noch auf ein Schiff gelangen konnten. Vor dem Fall der Stadt gelang es meinem Vater im letzten Augenblick, auf einem Schnellboot zu entkommen. Die Zahl der von der Marine und den von ihr befehligten Schiffen aus Kolberg geretteten Flüchtlingen soll 120.000 betragen haben.

Neben den ganzen traurigen Schilderungen meiner Eltern und Verwandten war natürlich auch die Rede von den schönen Dingen, die sie in der Heimat besaßen. Daher rührt sicherlich bei mir das Faible für alte Dinge, und das Wegwerfen fällt mir nicht ganz so leicht. Da meine Mutter nach der Scheidung arbeiten musste, hielt ich mich oft bei ihrer Mutter auf. In der kleinen Zweizimmerwohnung, die sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes in den 50er-Jahren bezog, befanden sich ein alter Sekretär und ein Vitrinen-Schrank, Erbstücke der Familie. Diese zwei Biedermeier Möbelstücke stammen aus der Mecklenburger Linie meines Großvaters und wurden meiner Großmutter von seiner Schwester zur Ausstattung der Wohnung überlassen. In der Vitrine war ein Porzellan-Service von KPM ausgestellt. Drei Essteller davon waren auf der Flucht dabei, auch ein vollständiges Jugendstil-Silberbesteck aus der Familie war gerettet worden. Ich habe diese Dinge als Kind immer sehr bewundert, wurden sie doch nur zu feierlichen Anlässen aufgedeckt. Heute halte ich diese Stücke in Ehren.

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