Selbstverwirklichung

 

Bevor ich Mitte der 1980er-Jahre für ein Schuljahr in die USA gegangen bin, ist meine Mutter mit mir nach Westberlin gereist. Sie wollte, dass ich die Mauer sehe. Um ehrlich zu sein: ich kann mich nicht daran erinnern, vor der Mauer gestanden zu haben. Aber ich kann mich sehr gut an die Zugfahrt von Helmstedt durch die DDR erinnern. Die Erwachsenen, wie wir aus dem Westen, waren alle wie geduckt, sie waren verängstigt von den ostdeutschen Kontrolleuren und Grenzbeamten. Es stand Angst im Abteil. Damit war mit dem Mauerfall 1989 Schluss.

Von Willy Brandts Ostpolitik führte keine direkte Linie zum Mauerfall. Aber seine Politik hat einen Stein ins Rollen gebracht, der langfristig politische Veränderungen bewirkte, die den Mauerfall zwei Jahrzehnte später möglich gemacht haben. Seine Vision kann ich am besten mit einem meiner Lieblingszitate von Willy Brandt beschreiben: „Die Politik soll sich zum Teufel scheren, die den Menschen das Leben nicht besser zu machen versucht.“ Das zielte auf die Bürgerinnen und Bürger der DDR. Und „besser“ heißt hier: politisch selbstbestimmt, in Frieden und Freiheit – und nicht in einer Diktatur. Aber genau dort, in einer Diktatur, sind die Menschen seit Herbst 1989 auf die Straße gegangen. Weil sie politisch selbstbestimmt leben wollten. Das erforderte viel Mut – und dieser Mut hat letztlich die Mauer zum Einsturz gebracht. Mich beeindruckt das immer wieder aufs Neue; dass das auch anders hätte enden können, hatte man nur wenige Monate vorher in China gesehen, als die Protestbewegung im Juni 1989 in Peking blutig niedergeschlagen wurde. Ich hadere deshalb auch mit dem Begriff der Selbstverwirklichung als Wert.

Vor der individuellen Selbstverwirklichung kommt für mich die politische Selbstbestimmung. Sie steht für unsere Rechte, die uns als Menschen gehören: Ich kann, um nur einige Punkte aus der Menschenrechtscharta aufzuzählen, selbstbestimmt meinen Wohnort und meine Arbeit wählen, ich kann frei einer Religion angehören, ich kann frei und geheim wählen.

Daran erinnern mich die Mauerstücke, die wir hier am Willy-Brandt-Haus verkaufen, aber die ich auch noch aus meiner Zeit in Berlin kenne, wo ich nach 2001 lange gelebt habe. Tatsächlich werden diese Mauerstücke häufig gekauft, noch heute, mehr als drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall. Vielleicht finden unsere Besucherinnen und Besucher einfach, dass sie ganz cool aussehen. Vielleicht aber sehen sie in den Steinchen auch Erinnerungsstücke. Daran, dass das Leben auf der einen Seite des Eisernen Vorhangs eben nicht selbstbestimmt war, dass der Staat einen willkürlich maßregeln und beschränken konnte (und schlimmeres). Mich erinnern die Mauerstücke daran, dass es Mut braucht, sich für politische Selbstbestimmung, Freiheit und Recht einzusetzen – und zwar nicht für mich als Individuum, sondern für die Gesellschaft.

Ob ich diesen Mut aufbrächte? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass politische Selbstbestimmung auch in Demokratien gefährdet ist. Jüngstes und für mich krassestes Beispiel ist die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in den USA, das Urteil Roe vs. Wade aufzuheben und damit das Abtreibungsrecht auszuhebeln. Damit greift der Staat direkt in die Selbstbestimmungsrechte von Frauen ein. Auch bei diesem Beispiel sieht man: Politische Selbstbestimmung ist ein Privileg. Und wenn wir nicht darauf aufpassen, rutscht uns dieses Privileg durch die Finger.

 

B.G.

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