Freiheit

Abzeichen

Abzeichen

Dieses Abzeichen bekam ich nach meinem Hochschulabschluss in der ehemaligen Sowjetunion im Jahre 1976, zusammen mit dem Diplom.
Es konnte am Kragen eines Anzuges während der Arbeitszeit getragen werden. Das wollte ich zwar nicht, aber das Abzeichen war trotzdem wie eine Trophäe für mich. Durch diesen Abschluss und die damit verbundenen guten Berufschancen hatte ich einen anderen Status in der damaligen Sowjetgesellschaft als meine durch den Krieg vertriebenen und politisch verfolgten Eltern. Ich habe selbst als Kind ganze fünf Jahre meines Lebens mit den Eltern in einem Internierungslager verbracht. Die Entbehrungen und die Freiheitsberaubung sowie die politische Verfolgung meiner Eltern sind ein Teil meiner Biografie. Mit ihren acht Kindern, geprägt durch Krieg und Existenzangst, hatten meine Eltern nur eine Vision: Bildung und Freiheit für ihre Kinder. Dieser Anspruch wurde zum Glaubenssatz der Familie. Bildung ermöglichte mir sozialen Aufstieg mit viel Wertschätzung im Beruf. Sie förderte meine kritisch reflektierende Wahrnehmung und schaffte bei mir ein Bewusstsein, auch politisch eine Position zu beziehen. 1982 konnte ich das Land, das meine Eltern verachtet hat, mir aber die Chance gab, das Privileg der „Andersdenkenden“ zu erwerben, mit gemischten Gefühlen verlassen. Eiserner Vorhang hinter mir, Freiheit vor mir!
Nach der Ankunft im Westen stellte ich schnell fest, dass ich wiederum einer stigmatisierten Gruppe – diesmal als „Aussiedlerin“ – angehörte. So wurde der Glaubenssatz meiner Eltern – „Bildung und Freiheit“ – plötzlich wieder aufs Neue fokussiert. Dazu gehörte auch, das Fremde mit dem Neuen, das Unbekannte mit der mitgebrachten Erfahrung zu verbinden. Eine Geschichte über FreiheitDas AbzeichenViele Möglichkeiten wurden mir zuteil: Eine neue Berufsausbildung, einStudium und unzählige Weiterbildungen, die meinen Wissensdrang nie ausfüllen konnten. Ich nutzte immer wieder aufs Neue jede Chance, um der Stigmatisierung zu entkommen. Auch hier ermöglichte mir der soziale Aufstieg Teilhabe, Unabhängigkeit und Wohlbefinden. Er förderte auch mein Bewusstsein über die eigenen Privilegien. Ein Abzeichen gab es dafür nicht. Das gab ich mir selbst in Gedanken. Mit 67 Jahren sage ich: „Die Bildung ist nie mit einem Abzeichen abgeschlossen. Bildung ermöglicht Integration, sozialen Aufstieg und Teilhabe! Sie macht uns frei! Bildung ist eine Reise, die für mich nie aufhören wird, solange ich lebe.“

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Eine Geschichte über Freiheit
Eine Geschichte über Freiheit