Ich habe meine Großtante Dorothea nur als Kind erlebt. Sie war eine distinguierte und vornehme alte Dame. Sie hatte einen Gehstock, den ich bewundert habe und auf dem ich gern geritten bin. Und sie hatte immer eine Pillendose mit vielen bunten Tabletten dabei, aus der sie vor jedem Essen mehrere nahm. Ich hätte am liebsten auch welche genommen, aber durfte natürlich nicht. Ich erinnere mich, dass sie mir und meinen beiden Schwestern gerne vorgelesen hat. Obwohl ich sie nur kurz kennengelernt habe, fühle ich mich meiner Großtante Dorothea heute noch nahe. Und ich bin stolz auf sie, denn sie hat eine Menge erreicht. Sie hat eine Doktorarbeit über ein anspruchsvolles germanistisches Thema geschrieben, obwohl sie eine Frau war, und das war in den 1920er-Jahren alles andere als selbstverständlich. Davon wurde in unserer Familie nie viel Aufhebens gemacht, aber heute weiß ich, was das für eine Leistung war. Für meine Mutter war sie eine besondere Person, weil meine Großmutter viele Kinder hatte und sich um jedes einzelne nicht so intensiv kümmern konnte. Da ist Dorothea eingesprungen. Als sie starb, weinte meine Mutter. Das habe ich selten bei ihr erlebt, deswegen erinnere ich mich gut an den Moment.