Es waren die ersten Tage auf der neuen Schule. Aus meiner alten Klasse kamen elf Leute mit in meine neue Klasse. Das war sehr ungewöhnlich, meistens schafften es nur drei bis vier Kinder pro Klasse aufs Gymnasium. Doch wir waren die Russischklasse und schon immer die leistungsstärkste Klasse unseres Jahrgangs. Wir haben uns wie eine Einheit gefühlt und uns auch so verhalten. Das war gut, weil wir stets darauf achteten, alle mitzunehmen und uns gegenseitig zu helfen, beispielsweise indem wir die Ergebnisse der Hausaufgaben teilten. Aber auf der anderen Seite unterordneten wir uns immer der Gruppe. Disziplin und das Wohl der Gruppe standen an erster Stelle, Individualismus war dagegen verpönt. Von Anfang an wurde uns beigebracht, dass auch ein Kind Leistung erbringen muss. Es kam uns überhaupt nicht in den Sinn, Forderungen zu stellen. Zuerst mussten wir uns fragen, was wir persönlich tun können.Wir benahmen uns stets vorbildlich: Wir sorgten beispielsweise selbst dafür, dass unsere Klassenräume sauber blieben. Wir trugen Hausschuhe, hatten abwechselnd Kehrdienst und freitags wurde gewischt. Jeden zweiten Monat reinigten wir bei einem Subbotnik (eine in Sowjetrussland entstandene Bezeichnung für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Samstag) die Klassenräume, inklusive Bodenbohnern, Fensterputzen und Gardinenwaschen. All das geschah selbstorganisiert, da ein einziges Hausmeisterpaar für unsere gesamte Schule verantwortlich war. Wir fühlten uns für unseren Klassenraum verantwortlich. Es entstand sogar so etwas wie ein kleiner Wettbewerb darüber, welche Klasse das schönste Klassenzimmer hatte. Ich hinterfragte das nicht, da ich es von Zuhause auch so kannte: Donnerstags nach der Schule saugte und wischte ich zu Hause, ging mit meiner Mutter einkaufen oder putzte die Speichen meines Fahrrads mit Elsterglanz. Im Prinzip war es egal, ob es die Familie oder die Schulklasse war, man sah sich immer als verantwortlichen Teil der Gruppe.Eines Tages fassten wir sogar den Entschluss, unseren Klassenraum von Grund auf zu renovieren. Wir gingen mit unserer Idee zum Schulleiter, der natürlich sofort begeistert war. Wir bekamen Geld für Farbe, Tapeten und Kleister. Die benötigten Gerätschaften hatten viele unserer Eltern sowieso zu Hause. Die Aktion lief richtig gut: Das Malen machte Spaß und die Ziegeltapete, die wir an die Träger klebten, sah richtig schick aus. Zur Stärkung gab es Limo und Bratwurst. Durch Aktionen wie diese fühlten wir uns immer mit unserer Schule, unserem Klassenraum und unserer Klassengemeinschaft verbunden. Wir fühlten uns verantwortlich, für das, was wir hatten, und auch für uns untereinander. Heutzutage empfinden viele Menschen, aber vor allem auch Schüler, einen starken individuellen Leistungsdruck. Diesen Leistungsdruck hatten wir damals viel mehr kollektiv, sodass trotzdem jeder für sich verantwortlich war, aber es war selbstverständlich, sein Bestes zu geben, um die Gruppe weiterzubringen. Wir hatten immer das Gefühl, es gibt nichts Gutes, außer man tut es.