Gabi war 14 Jahre alt, als ihre Eltern ihr zwei Tage vor Heiligabend 1960 sagten, dass sie eine Flucht aus der DDR in den Westen am 24. Dezember planten. Gabi war klar, dass sie diese Pläne, genau wie vieles andere, für sich behalten musste. Das tat sie auch, obwohl sie am Tag vor der Flucht mit ihrem Schwarm ins Kino ging. Gabis Gefühle bezüglich der geplanten Flucht waren gemischt. Sie empfand große Trauer darüber, all ihre Freunde und Freundinnen zurückzulassen und ihrer Heimat Altenburg in Thüringen den Rücken zu kehren. Auf der anderen Seite wusste Gabi von vielen Besuchen bei ihren Großeltern in Bremen, dass auf der anderen Seite der Grenze ein "Schlaraffenland" mit vielen Möglichkeiten auf sie wartete. Sie konnte ihre Eltern verstehen. Die Flucht war vom Vater bis ins kleinste Detail geplant. Die Familie nutzte die gelockerten Ausreisebeschränkungen nach Ostberlin zur Weihnachtszeit und reagierte mit der Entscheidung zur Flucht auf einen Hinweis eines Bekannten, dass der Vater wegen seiner regierungskritischen Äußerungen unter besonderer Beobachtung der Stasi stand. Die Nervosität der Eltern und auch von Gabi war groß. Die Wohnung wirkte kurz vor der Abreise wie immer, unverändert, nur Gabis Mutter rannte am Tag der Flucht aufgeregt von Zimmer zu Zimmer. Gabis Vater schloss letztendlich die Zimmertüren innerhalb der Wohnung ab, um Ruhe herbeizuführen. Im Nachhinein erfuhr Gabi, dass der Vater vergessen hatte, im Wohnzimmer das Licht auszumachen. Ein Fehler, der fatale Folgen hätte haben können. Was wäre ein Grund dafür, dass bei einer Familie an Weihnachten die ganze Nacht das Licht brennt? Gabi trug am 24. Dezember 1960 ihr wertvollstes Kleidungsstück: ein Kleid aus schwarzem Seidensamt, ihr Konfirmationskleid. Den Stoff hatte ihre Mutter während der Leipziger Messe mit großem Aufwand erworben. Es war etwas sehr Besonderes und als Kleidungsstück für Heiligabend unauffällig. Alles, was für die mehrtägige Flucht benötigt wurde, musste Gabi unter diesem Kleid verstecken: mehrere Lagen Unterwäsche und weitere Kleidungsstücke. Das einzige Gepäckstück der Familie auf der Flucht war eine Aktentasche. Der Inhalt der Aktentasche barg ein enormes Risiko: Gabis Wellensittich, der die Namen der ganzen Familie aussprechen konnte. Gabi war nicht bereit, ohne den Vogel zu fliehen. Für den Fall, dass der Vogel entdeckt werden würde, hatte die Familie natürlich eine Erklärung parat. Aber würde man ihnen diese glauben? Der Weg der Familie führte mit dem Zug mit Zwischenstopps in Leipzig und Magdeburg nach Potsdam. In Potsdam stiegen Gabi und ihre Eltern in die S-Bahn nach Berlin Alexanderplatz. Die Familie sprach während der Fahrt kaum miteinander, die Luft war zum Schneiden dick. Gabis Eltern hatten ihr eine Adresse in Ostberlin eingeprägt, die sie im Falle einer Befragung durch die Volkspolizei nennen sollte. Gabi nahm keine anderen Mitfahrenden im Abteil wahr. Sie saß ihren Eltern gegenüber, entgegen der Fahrtrichtung, den Blick Richtung Osten gerichtet. Der Grenzzaun war für die Eltern schon zu sehen, da stoppte die Bahn. Gabi sah auf und blickte in die aus Angst geweiteten Augen ihrer Mutter. Es herrschte Stille. Diesen Blick ihrer Mutter wird Gabi nie vergessen. War die leere Wohnung in Altenburg entdeckt worden und wurde nun nach der Familie gesucht? Hatte der Zug deshalb angehalten? In den Augen der Mutter spiegelten sich die möglichen Konsequenzen dieser Flucht wider: Die Eltern könnten ins Gefängnis kommen und Gabi in ein Kinderheim... Dann fuhr der Zug weiter, er hatte ohne erkennbaren Grund gehalten. Die Familie überquerte die Grenze. In der Flüchtlingsunterkunft in Marienfelde ließ Gabi als Erstes ihren Wellensittich im Zimmer fliegen, ein Zimmer mit zwei Etagenbetten. Er war wieder frei, ebenso wie die Familie. Nach der enormen Anspannung war jedoch noch keine Zeit für Entspannung. Es gab viel zu tun. Papierkram musste erledigt werden, die weitere Reise organisiert werden. Mit dem Flugzeug ging es nach ein paar Tagen weiter nach Hamburg. Die Mutter hatte noch Angst, Angst vor einer möglichen Notlandung des Flugzeugs im Osten. In Hamburg nahm die Familie dann den Bus zur Flüchtlingsunterkunft nach Uelzen, wo die Familie in einem großen Schlafsaal untergebracht war. In dieser Nacht fiel die Anspannung von Gabi ab, sie musste das erste Mal auf der Flucht schrecklich weinen. Sie wollte nicht in der Flüchtlingsunterkunft bleiben. Ihr Vater bemerkte dies und organisierte für sie am nächsten Tag, ihrem 15. Geburtstag, eine Autofahrt nach Bremen, wo ihre Tanten lebten. In ihrem schwarzen Seidensamtkleid stieg sie in das Auto eines Bremers, der seine geflüchtete Mutter abholte und Gabi wohlbehalten zu ihren Tanten brachte. Gabis Eltern kamen später nach. Silvester 1961 feierte die Familie erleichtert zusammen in Freiheit.