Offenheit

Herz verschenkt

Herz verschenkt

Im Jahre 2007, nach Ende des Studiums bin ich für ein knappes halbes Jahr nach Costa Rica gezogen. Mitten in San José habe ich in einer illegal errichteten Wellblechsiedlung gewohnt, an einer Anhöhe gelegen. Auf der einen Seite begrenzt durch eine lange Bahntrasse ohne jegliche Absperrung, so dass regelmäßig herumspielende Kinder in Gefahr waren, da die Gleise auch gleichzeitig als “Spielplatz” dienten. Auf der anderen Seite begrenzt durch ein kleines verseuchtes Flüsschen, in welches das Abwasser der Siedlung eingeleitet wurde. Gewohnt habe ich auf engstem Raum bei einer Familie, die fast nichts besaß: kaum Platz, kaum Bildung und kaum Geld. Der uralte Kühlschrank - fast gähnend leer. Die Hauptmalzeit für uns alle war Bohnen mit Reis: zum Frühstück, zum Mittag und zum Abendessen. Was sie aber besaßen war der größte Schatz: Lebensfreude und ein großes Herz. Sie haben mich als vollkommen fremde junge Frau aus einer offenkundig anderen Welt (hellblonde Haare, andere Sprache, andere Kleidung ...) in ihr Zuhause aufgenommen - ohne wenn und aber - und haben den wenigen Platz noch mit mir geteilt. Wenn auch schon lange erwachsen, so wurde ich doch wie eine weitere Tochter behandelt und ebenso genannt: mi hija - meine Tochter. Ich bin an diesen Ort gekommen, um ein wenig zu helfen: Kindern und Erwachsenen Englisch beibringen, Hausaufgabenhilfe auf Spanisch leisten und vor allem ein wenig “da sein” mit offenem Ohr und offenem Herzen. Gleichzeitig wurde aber auch mir geholfen und zwar auf verschiedensten Ebenen und oftmals fast unbewusst. Ich habe gelernt, dass mein “richtig” oder “falsch” nicht automatisch für jeden “richtig oder “falsch” ist. Ich habe gelernt, dass oft diejenigen, die am allerwenigsten besitzen, es vermögen, am meisten und großzügigsten zu geben. Der Aufenthalt war allerdings auch nicht immer nur positiv, es gab auch viele Momente des Zweifelns: Desinteresse an meinen Hilfsangeboten, Schicksale innerhalb der Gemeinschaft, die mich tief bewegt haben, und damit einhergehend auch Traurigkeit und zuweilen Hilflosigkeit in Bezug auf die Frage: “Wie konnte ich nur so naiv sein zu glauben, dass ich hier wirklich den Menschen dauerhaft irgendetwas Gutes tun kann?” Mittlerweile liegt mein Aufenthalt in San José 15 Jahre zurück, und ich bin mit “meiner” Familie bis heute in Kontakt. Vor wenigen Jahren ist es ihnen gelungen, die illegal besiedelte Fläche zu verlassen, ein kleines Stück Land in einem Wohnprojekt zu erwerben und ein kleines Häuschen darauf zu bauen - in einer Gegend auf dem Land, weit entfernt von dem Dreck & Abwassergestank, dem Lärm und den vielen Gefahren, die so eine Armensiedlung mit sich bringen. Vor mittlerweile 8 Jahren gab es wieder mal eine der regelmäßigen Whatsapp-Nachrichten - zum Glück können sie ein Mobiltelefon finanzieren. Sie hätten gute Nachrichten, hieß es in der Nachricht: sie erwarten wieder ein Kind, ein Mädchen, und sie möchten mir sagen, wie es heißen wird: ANNETTE. Ich war absolut sprachlos. Annette ist auch mein Name. Und ein Name, den sie damals - 2007 - bei meiner Ankunft noch nie gehört hatten. Sie haben diesen Namen einfach gewählt, weil sie offen sind und Fremdes zulassen, und mir einfach ihre Herzen geschenkt haben. Und ich meines an diese, für mich so besondere Familie. Zwischen den vermeintlichen Luxusproblemen, die einen zuweilen im Alltag irritieren, vergeht praktisch kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendwann aus den unterschiedlichsten Gründen an sie denken muss. Danke für dieses warme Bauchgefühl, dass nur aus Offenheit möglich war und ist. Danke, liebe Yessenia, Javier, Patricia, Albenis, Leonardo und Annette ---- Gegenstand für die Ausstellung, falls die Geschichte von Interesse ist: hier gibt es mehrere Möglichkeiten: - ein fröhlich buntes Holzkreuz, dass mir die Familie zum Abschied geschenkt hat und das auf mich achtgeben soll - ein Foto der Familie, aufgedruckt auf einem T-Shirt, dass sie mir in einem Paket geschickt haben - das besagte Paket mit Briefen, dem T-Shirt, einem kleinen Fotoalbum und weiteren kleinen Geschenken. Das einzige Paket, dass sie mir jemals gesendet haben, weil es sehr teuer für sie war und welches ich hüte, wie einen Schatz. Das T-Shirt wurde noch nie getragen, weil ich die Befürchtung habe, dass eine Wäsche den Aufdruck des Familienportraits kaputtmachen würden.

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