Selbstverwirklichung

Jeder geht seinen Weg

Jeder geht seinen Weg

Ich mochte Haize von Anfang an. Er war witzig, charmant und der größte Mensch, den ich je gesehen hatte. Es gab keinen Tag an dem wir uns nicht trafen. Wir saßen oft am Anleger unten am Kanal, und er erzählte mir von seiner Katze, seiner Reise nach Berlin und dem Aufenthalt in der Klapse. Irgendwie hatte er diese Gabe, selbst die traurigsten Geschichten wie Witze klingen zu lassen. Und das Beste war, er hatte immer Hoffnung. Als sein Zustand sich verschlimmerte und er wieder eingewiesen wurde, schrieb er mir Briefe. Jeden Tag, drei Monate lang. Ab und zu waren auch ein paar Zeichnungen dabei. Haize war für mich wie ein großer Bruder, ich mochte niemanden mehr als ihn. Im Sommer knüpfte er mehr Kontakt zu einer Freundesgruppe, aus der ich nach einiger Zeit ausstieg. Irgendwann kam Haize zu mir, und ich bemerkte sofort, dass etwas anders war. Er verneinte all meine Vermutungen, aber das Bild der weißen Pulverreste an seiner Nase brannte sich in mein Gedächtnis und hinterließ einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge. Über die Monate hin veränderte sich sein Verhalten mir gegenüber. Bei unseren Treffen blieb er stumm, machte keine Witze und hörte auf, mir Briefe zu schreiben. Zu meiner Überraschung lud er mich zu seinem Geburtstag im November ein. Zuerst wollte ich nicht gehen, wurde dann aber von einer Freundin überredet. Wider Erwarten war die Stimmung ziemlich ausgelassen, und es dauerte nicht lange, bis ich angetrunken und grinsend im Gras lag. Alles schien für den Augenblick perfekt. Bis Lina kam. "Haize hat Pillen geschluckt. Er muss ins Krankenhaus." Acht Worte. Acht Worte, die innerhalb von Sekunden meine ganze perfekte Welt in Stücke rissen. Im Fernsehen werden Suizidversuche immer als großes Spektakel dargestellt. Wie etwas, was laut und voller Aufregung passiert. Aber in dem Moment, in dem ich realisierte, dass mein bester Freund sich versucht hatte, umzubringen, war alles ganz leise. Es war nicht wie in irgendeiner Serie, es war nicht spannend oder unterhaltsam. Es war einfach nur schrecklich. Rückblickend würde ich sagen, dass das Schlimmste an dem Ganzen nicht dieser Moment, sondern die Busfahrt am nächsten Morgen war. Niemand sagte ein Wort, jeder musste das Geschehene auf seine eigene Art verarbeiten. Am Nachmittag dann die Nachricht von Haize. Es ging ihm gut, und das war für mich das Einzige, was wirklich wichtig war. Trotzdem konnte ich nicht mehr. Noch am selben Tag führte ich ein langes Gespräch mit ihm und erklärte ihm meine Gefühle. Das alles ist jetzt fünf Monate her. Ich habe seitdem nicht mehr mit Haize gesprochen. Ab und zu verfalle ich in Erinnerungen und denke an all die Pläne und all die Visionen, die er einmal hatte. Ich weiß, dass die Drogen nicht der Hauptgrund für seinen Abrutsch waren, auch wenn ich es mir gerne einreden will. Es ist wirklich erschreckend, wie schnell ein so verträumter und ehrlicher Mensch zu einem stillen Wesen ohne Ziel und Träume werden kann. Meinen damaligen besten Freund gibt es nicht mehr. Aber vielleicht macht er irgendwo irgendwem anderes eine Freude mit einem kleinen Brief aus der Klapse.

Weiterlesen

Glück in mir
Glück in mir