Offenheit

Klebeband

Klebeband

Ich bin nach der Schule für ein Freiwilliges Soziales Jahr vom Dorf in die Stadt gezogen. Eine meiner Aufgaben war es, Flyer und Plakate in der Stadt zu verteilen. Die Stadt war mir zu Beginn noch ziemlich unbekannt, ich hatte mir also auch einen Stadtplan geholt, um zu schauen, welche Route ich durch die Stadt nehmen sollte. Ich habe also einen Beutel gepackt, mit einer Mappe mit Plakaten, vielen Flyern und einer kleinen Tesafilmrolle. Dann bin ich also losgelaufen und auf die erste Ladentür zu. Eintreten. Eine Person suchen, die verantwortlich ist. Sie bei der Arbeit unterbrechen. Die Hoffnung, dass man etwas kauft. Die Hoffnung, die man dann enttäuschen muss. Man ist nur für Flyer da. Werbung für etwas anderes. Ein genervtes „Jaja, pack die da hinten hin“, sich hinknien und unter den Augen belustigter Kundinnen ein Plakat in ein Fenster oder an eine Tür kleben. Dann schnell bedanken, durch die Tür und hoffen, dass sie mich schnell vergessen. So habe ich mir das vorgestellt. Ganz nervös, wie ich war. Aber nichts davon ist eingetreten. Die Leute haben sich gefreut, ganz egal, dass ich nur Flyer hatte. Sie haben sich gefreut, helfen zu können. Egal in welchem Geschäft, ob im Weinladen, in der Goldschmiede, in der Bibliothek oder im Restaurant. Manchmal gab es nur ein freundliches „Ja klar“. Aber meistens waren die Menschen interessiert. Wer ich denn sei? Ich müsste ja neu sein! Da war doch sonst jemand anderes! Ich wurde gefragt, seit wann ich hier bin? Wo ich aufgewachsen bin? Wo ich hier jetzt wohne? Ob es mir gefällt? Ob mir die Stelle gefällt? Ich kniete da an der Scheibe und habe Klebestreifen von einer Rolle gerissen. Ganz genau darauf geachtet, dass das Plakat gerade hängt. Aber ich wurde nicht blöd angestarrt, ich wurde begrüßt und interessiert befragt. Manchmal sollte ich Grüße an die Kollegen ausrichten. Manchmal hatte ich am Abend dann eine ganze Liste von Leuten in meinem Kopf durchzugehen, um auch alle Grüße zu übermitteln. Manchmal wurde ich gefragt, was es denn als nächstes zu sehen gibt? Dass die Leute ja so gerne zu uns kommen und sie sich über die Flyer freuen. Manche kannten die Kollegen persönlich und erzählten mir Geschichten und Anekdoten. So lernte ich schnell die Stadt und ihre Leute kennen, und plötzlich war ich Teil von alldem. Ich kannte die Besitzerinnen der Bar von nebenan, von der Bäckerei die Straße runter, vom Hotel am anderen Ende des Viertels, die Namen vom Weinhändler, vom Mitarbeiter im Copyshop, von der Goldschmiedin. Die Leute haben nicht nur die Flyer offen empfangen, sondern auch mich. Sie waren offen dafür, eine neue Person kennenzulernen, offen dafür, zu erfahren, was anderswo in der Stadt passiert, interessiert an einem Miteinander, daran zusammenzuhalten. Manchmal vergesse ich, dass wir in der Stadt alle eine Gemeinschaft sind. Dann erinnere ich mich gerne an die Flyer und an das Klebeband. Es ist schön, offene Türen einzurennen.

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