Zusammenhalt

Der rote Ballon

Der rote Ballon

Meine Oma erzählte mir, als meine Mutter 8 Jahre alt wurde, dass auf ihrer Geburtstagsparty Ballons steigen gelassen wurden. An der Schnur des Ballons war eine Postkarte befestigt mit der Heimatadresse meiner Mutter und mit der Bitte um eine Antwort an die Person, die diesen Ballon findet. 160 km Luftlinie später landete der Ballon dann in Perlenberg in der damaligen DDR. Ein kleines Mädchen namens Evita fand den Ballon und schrieb meiner Mutter einen Brief zurück. In dem Brief stellte sie sich kurz vor, erzählte, dass sie 10 Jahre alt sei und den Ballon gefunden habe. Daraufhin beschloss meine Oma, Evita ein Paket zu schicken mit Lebensmitteln wie z.B. Haferflocken, Schokolade und Kaffee – alles, was man zu dieser Zeit schicken durfte – in das Paket legte meine Oma einen Brief. Dieses Paket kam dann einige Zeit später zurück - bereits geöffnet, durchwühlt und wieder schlecht zusammengeklebt. Meine Oma erklärte mir dann, dass jedes Paket, das in die DDR geschickt wurde, vom Zoll kontrolliert und jeder Brief gelesen wurde. So etwas kann man sich in der heutigen Zeit gar nicht mehr vorstellen mit unseren Datenschutzrichtlinien... oder doch? Nach einiger Zeit fand meine Oma heraus, was genau verschickt werden durfte und welche Inhalte in einem Brief erlaubt waren und über welche Lebensmittel sich Evita am meisten freuen würde. Irgendwann traute sich meine Oma auch Geld zu verschicken – früher war dies strengstens verboten, da man mit Westgeld auf dem Schwarzmarkt zahlen konnte. Meine Oma versteckte jeweils 20 Mark in dem Silberpapier der Schokolade und verpackte diese dann wieder, damit die Leute vom Zoll das Geld nicht entdeckten. Evita hatte sich für jedes Paket per Brief bedankt und besonders für die Schokolade. Dieser „Zweckaustausch“, wie es meine Oma genannt hatte, ging über fast 15 Jahre mit jeweils drei Paketen pro Jahr zum Geburtstag, Ostern und Weihnachten. Über die Zeit hinweg bekam sie dann immer wieder Bruchstücke aus Evitas Leben mit, ihren ersten Freund, dann die Hochzeit und was sie dann später beruflich gemacht hat – es waren aber nie lange Briefe mit viel Inhalt, denn ein richtiger Austausch zwischen West und Ost war nicht wirklich möglich oder erlaubt. Als ich meine Oma fragte, warum sie über so eine lange Zeit diese Pakete an eine fremde Frau geschickt hat, antwortete sie nur: „Wir gehörten doch zusammen. Wir sind ein Volk, wir wurden doch nur durch eine Mauer getrennt und wir wollten helfen.“ 1989, als die Mauer geöffnet wurde, brach der Kontakt ab: kein Brief, kein Anruf. Nichts.

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