Resilienz

Die Bergsteigerin

Die Bergsteigerin

Zu einer Zeit, als die meisten Menschen in der DDR von der Flucht nach Westdeutschland träumten, träumten andere Menschen von der Flucht in die DDR. Das Elend der einen kann der Traum der anderen sein. Die Flucht in die westlichen Länder blieb für die meisten Menschen in Osteuropa eine schwer greifbare Vorstellung. Die Flucht in die DDR hingegen war zwar immer noch sehr schwierig, aber eine Möglichkeit. Eine, die ein besseres Leben versprach als das, was die meisten zu Hause hatten. Die beste Art zu fliehen war als Sportler. Im kommunistischen Block waren Sportveranstaltungen eine wichtige Quelle des Stolzes, und jedes Land schickte seine Besten zu Wettkämpfen. Wenn man dort war und den schwierigsten Schritt, das Land zu verlassen, bereits getan hatte, hätte man sich leicht entscheiden können, nicht zurückzukehren. Nach links statt nach rechts zu gehen und neu beginnen. Doch nur sehr wenige waren Sportler. Meine Großmutter z.B. arbeitete in einer Schuhfabrik. Im Jahr 1985 arbeitete sie 6-Tage die Woche. Eine ihrer Schichten dauerte 14 Stunden. Sie begann am Samstag um 14 Uhr und endete am Sonntagmorgen um 4 Uhr. So blieben ihr nur wenige Stunden Schlaf, bevor sie ihren freien Tag "genießen" konnte. Ein Tag, an dem sie, wie alle anderen Frauen dieser Zeit, stundenlang für Brot, Butter und Eier anstehen, dann kochen, das Haus putzen und sich um ihre Kinder kümmern. All das musste sie bis 20 Uhr erledigen, als der Strom abgestellt wurde, so wie an jedem anderen Tag der Woche auch. An manchen Tagen, wenn der Winter besonders unbarmherzig war, kam der Bus, der sie von der Arbeit nach Hause bringen sollte, nicht, sodass mehr als eine Stunde in der Kälte laufen musste. Während die Nacht langsam in den Tag überging, setzte sie einen Fuß vor den anderen und dachte an nichts. Ihr warmer, feuchter Atem gefror um ihre Augenbrauen, um ihre Wimpern, um jedes einzelne Gesichtshaar, das er auf seinem Weg hinauf in den gefrorenen Himmel fand. Sie erzählte mir, dass sie mit einem Gesicht voller Eis nach Hause kam. So stelle ich sie mir auch vor: Wie sie nach einer 14-Stunden-Schicht am Ende einer "normalen" Arbeitswoche mit gefrorenem Gesicht nach Hause kommt. Und wenn ich das tue, sehe ich nicht meine Großmutter. Ich sehe stattdessen eine Bergsteigerin. Eine Frau von immenser Kraft. Dabei war sie sich nicht einmal bewusst, wozu sie fähig war. Sie wusste nicht einmal, dass ihr Leben härter war als das härteste Trainingsprogramm. Dass sie eine Weltklasse-Athletin war. Niemand sagte ihr, um ein neues Leben zu beginnen. Wenn sie es nur gewusst hätte, hätte sie dann ein besseres Leben begonnen? Als ich sie fragte, ob sie jemals daran gedacht habe, das Land zu verlassen, sagte sie nein. Der Gedanke daran war so weit von der Realität ihres Lebens entfernt, dass sie es sich nicht einmal vorstellen konnte. Aber ich kann es. Ich kann mir ein besseres Leben für sie vorstellen. Ein weniger hartes Leben. Doch die Vergangenheit zu imaginieren, ändert sie nicht. Und ihr Leben ist nicht das, was ich mir vorstellen kann. Anstatt mir also ein besseres Leben für sie vorzustellen, werde ich versuchen, von ihr zu lernen, von ihrem Leben, so wie es war. Ich werde versuchen, sie zu einem Vorbild zu machen, dem man folgen kann. Ich will ihr die Anerkennung geben, die sie verdient hat. Von nun an werde ich mir, wenn ich vor einem schwierigen Lebensabschnitt stehe, ihr erstarrtes Gesicht vorstellen. Das Gesicht von jemandem, der nie aufgegeben hat. Das Gesicht einer Großmutter, die auf flachem Land Berge erklommen hat.

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Schöffe
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