In meinem Arbeitszimmer hängt eine Postkarte über dem Schreibtisch, auf der das Lübecker Rathaus abgebildet ist. Das Gebäude ist hell beleuchtet. Mitten auf dem Gebäude sind die Sterne Europas zu sehen. Darunter steht #rebloomingeurope.
Ich komme ursprünglich aus Montenegro und mache in Lübeck gerade ein freiwilliges soziales Jahr. Seit ich ungefähr 16 Jahre alt bin, arbeite ich mit Jugendlichen. Offenheit heißt für mich nicht nur, Menschen so zu akzeptieren, wie sie sind, sondern auch, sie nicht in eine Richtung zu drängen, die ich für richtig halte. Gerade junge Menschen sollen so sein können, wie sie eben sind – natürlich nur so lange, wie sie nicht die Freiheit einer anderen Person gefährden. Wenn man mit jungen Menschen arbeitet, muss man offen für ihre Geschichte sein, für ihren Hintergrund und ihre Probleme, einfach für alles, was Teil ihrer Person ist, ohne seine eigene Vision von ihnen in den Vordergrund zu stellen. Offenheit ist für mich ein sehr wichtiger, sozialer Wert. Gesellschaften und Demokratien können nicht überleben, ohne offen für Ideen, Veränderungen und generell einen anderen Weg zu sein, als den, den sie schon kennen. Auf einer persönlichen Ebene finde ich Offenheit eben wichtig. In Lübeck und anderen Städten in Deutschland liebe ich es, all die verschiedenen Sprachen auf der Straße zu hören. Es gibt so viele verschiedene Restaurants, in denen man vietnamesisch, chinesisch, italienisch oder mexikanisch essen kann. Und ich liebe es, an der Musikhochschule vorbeizugehen, wo so viele junge Menschen verschiedener Nationen zusammenkommen und gemeinsam Musik machen, obwohl sie auf den ersten Blick unterschiedlich sind.
Ich bin 23 Jahre alt, das heißt, ich erinnere mich noch gut daran, wie es ist, ein Teenager zu sein. Ich war sehr verwirrt, wusste nicht, wer ich bin, was ich tun möchte und was zur Hölle ich auf diesem Planeten verloren hatte. Es gab in der Schule einen Moment, wo ich entschieden habe, dass ich in meinem Leben etwas von Bedeutung machen möchte, etwas Gutes – und mit Jugendlichen zu arbeiten, schien mir, ein guter Anfang zu sein. Dabei bin ich geblieben. Ich brauchte nur einen positiven Impuls von außen, einen anderen Typen an der Schule, der schon etwas in der Welt bewegte. Da dachte ich: Das kann ich auch. Ich finde es unglaublich, Jugendlichen helfen zu können, in dem man ihnen Möglichkeiten gibt, Selbstbewusstsein zu entwickeln. Man braucht ihnen nur einen Weg in die Gesellschaft zu zeigen und Möglichkeiten zu geben, aktiv zu werden. Ich habe in Montenegro mal einen Workshop mit dem Titel „Get outside the Box“ organisiert, wo wir mit Jugendlichen daran arbeiten wollten, auf einer Bühne frei zu sprechen. Viele Jugendliche hatten uns zuvor gesagt, dass sie große Probleme damit hätten, sich vor anderen Leuten zu öffnen, dass sie in der Schule gemobbt würden und bisher noch keinem davon erzählt hätten. Während des Workshops haben wir über verbale und nonverbale Kommunikation debattiert und kleine Übungen gemacht. Wir konnten dabei zusehen, wie sich die Jugendlichen Stück für Stück geöffnet haben. Am Ende konnten sie offen vor anderen reden. Wir haben es geschafft, dass sie sich trauen, und diese Offenheit verwandelte sich in Selbstvertrauen. Es war so schön zu sehen, wie schnell sie sich dann öffnen und ihre Einstellung verändern. Solche Momente sind gerade bei Jugendlichen wichtig, denn sie bewegen sich meist nur im Kreise ihrer Familie und der ist begrenzt. In Workshops mit anderen Jugendlichen können sie andere Sichtweisen kennenlernen und sich in einem neuen Umfeld ausprobieren. Ich folge noch ein paar von den Teilnehmenden von damals auf Instagram und es freut mich, so zu sehen, wie sie sich entwickelt haben. Ein paar von denen platzen vor Selbstvertrauen. Es kostet viel Mut und Überwindung, sich zu öffnen. Aber sobald man es tut, kann es das Leben verändern.
Als ich nach Lübeck zog, war die erste Zeit ziemlich herausfordernd für mich. Es war schwer, mich der norddeutschen Mentalität gegenüber zu öffnen. Die Lübecker:innen planen immer alles voraus in einem Kalender. Alles passiert zu einer bestimmten Zeit. Wenn ich mich mit Kolleg:innen verabreden will, muss ich das zwei Wochen vorher absprechen. Das ist für mich total seltsam, weil diese Dinge in meiner Kultur anders laufen. Ohne Klischees reproduzieren zu wollen, sind die Menschen in Montenegro eher spontan und ein bisschen chaotisch. Der erste Impuls ist es dann, dieses Verhalten zu bewerten. Aber besser ist es, sich dem zu öffnen und zu verstehen, dass die Eigenarten einer Kultur ihre Gründe haben, historische zum Beispiel. Sie sind das Produkt vieler Generationen und ihrer Erfahrungen. Sie können nicht wie man selbst sein, weil man ein anderes Leben geführt hat. Ich habe mich über die Zeit an diese Unterschiede gewöhnt. Und jetzt bin ich selbst manchmal derjenige, der einen Termin viele Wochen vorher im Terminkalender stehen hat.
Andererseits versuche ich, die Vorurteile über die Länder des Balkans zu verändern. Ich habe häufiger die Erfahrung gemacht, dass die Menschen wenig über den Balkan wissen. Sie halten Montenegro und andere Länder für weniger zivilisiert oder denken, es gäbe den Krieg noch. Ich möchte das Bild, das Menschen von meinem Land haben, verändern. Ich erzähle ihnen dann, dass es in Montenegro zum Beispiel Universitäten gibt oder dass wir einen grünen Minister haben. Ich teile mein Leben und meine Erfahrungen gern.
Die europäische Idee ist eine der wichtigsten, die wir haben. Daran erinnert mich immer wieder diese Postkarte. Klar, Europa hat sehr viele Probleme. Es hat strukturelle Probleme mit Ungleichheit, Rassismus, Sexismus, patriarchalen Hierarchien und vielem mehr. Aber ich möchte meine Energie lieber darauf verwenden, an einem besseren Europa zu arbeiten. Wenn wir die europäische Idee aufgeben, verzichten wir auf eine Zukunft in Frieden.