In meinen 26 Jahren als Seelsorger habe ich immer mal wieder in Höhen und Tiefen diese besonderen Erlebnisse mit Menschen. Diese Momente, die aus dem Rahmen fallen und deshalb lange in Erinnerung bleiben. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich mit Menschen intensive Erfahrungen teilen darf. Dafür bringe ich meine Empathie mit und meine Lust am Menschen. Ich erinnere mich besonders an eine sehr ungewöhnliche Erfahrung.
Es ist schon ein paar Jahre her, da war ich Pastor in einer Kirchengemeinde am Lübecker Stadtrand. Zu meinen Schwerpunkten im Gemeindealltag gehörte damals die Arbeit mit älteren Menschen. So leitete ich wieder einmal an einem Frühlingstag einen Seniorennachmittag im Gemeindehaus. Für diesen Nachmittag hatte ich ein Ratespiel vorbereitet: Ich besaß mehrere Schallplatten mit professionellen Aufnahmen von Vogelstimmen. Von diesen Schallplatten hatte ich eine Auswahl getroffen mit den Gesängen oder auch Rufen von bekannten und auch weniger bekannten Vögeln aus unseren Gärten und Wäldern. Einige Vogelstimmen hatte ich bewusst sehr einfach gehalten, damit auch wirklich jeder in der Runde ein Erfolgserlebnis hat. Natürlich erkennt so ziemlich jeder einen Kuckuck oder einen Uhu. Unter den von mir ausgewählten Vogelstimmen war auch der melodische Gesang der Nachtigall dabei. Nachdem ich schließlich bei diesem Vogelstimmen-Quiz alle Vogelstimmen aufgelöst hatte, sagte eine Teilnehmerin mit einiger Traurigkeit, dass sie noch nie in ihrem Leben von fast 80 Jahren eine Nachtigall in natura gehört habe. Dann erzählte ich davon, dass es gerade in unserem Stadtteil durchaus Nachtigallen gäbe, nur würden diese halt wirklich bevorzugt mitten in der Nacht singen. Aus diesem Gespräch heraus entstand spontan eine wunderbar verrückte Verabredung mit der alten Dame: Wenn die Nachtigall jetzt im Frühjahr wieder einmal nachts singt, dann würde ich sie anrufen, von zu Hause mit dem Auto abholen, und dann würden wir beide an den richtigen Platz fahren, um dem Gesang zu lauschen. In einer lauen und völlig windstillen Frühlingsnacht im Mai war es schließlich so weit. An einem späten Abend vergewisserte ich mich zunächst, dass Nachtigallen in unserem Stadtteil wirklich zu hören waren. Kurz vor Mitternacht rief ich dann bei der alten Dame an: „Es ist soweit! Kann ich Sie mit meinem Wagen abholen?“ Wenig später saß die alte Dame bei mir auf dem Beifahrersitz. Ganz in Ruhe suchten wir einen Kinderspielplatz auf, der von etlichen Hecken und mit Abstand von Bäumen umgeben war. Auf diesem Spielplatz setzten wir uns auf eine Bank, auf der tagsüber Eltern sitzen, die ihren spielenden Kindern zusehen.
Nun saßen wir beide hier allein in einer warmen Mainacht mitten in der Dunkelheit. Um uns herum keine störenden Alltagsgeräusche. In den Bäumen ringsum sangen doch tatsächlich vier Nachtigallen um die Wette! Dem Gesang der Vögel zuzuhören, war für uns beide eine sehr besondere Erfahrung und eine echte Sternstunde! Die Frau war wirklich gerührt. Ich war auch berührt, weil ich dieser Frau aus meiner Gemeinde zu einer im wahrsten Sinne des Wortes einmaligen Erfahrung von Natur verhelfen konnte. Eine gute halbe Stunde hörten wir den Melodien der gefiederten Gesangsakrobaten zu. Dann brachte ich die alte Dame wieder zurück zu ihrer Wohnung. Diese spezielle „Nachtschicht“ hat die alte Dame und mich noch über Jahre hinweg besonders verbunden.
Mit einer Seniorin mitten in der Nacht auf einem Kinderspielplatz, um Nachtigallen zu hören – das war wirklich wunderbar verrückt. Um solch ein Erlebnis mit einem Menschen teilen zu können, braucht es Offenheit für die Wünsche und Sehnsüchte eines anderen Menschen und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen. In diesem Falle bedeutete es noch für mich, zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit „in die Gänge zu kommen“.