Selbstbestimmt

Die Flamingoblume

Die Flamingoblume

Am frühen Morgen des 10. Februar 1974 schwingt sich der 27-jährige Dietmar auf sein Fahrrad. Es ist dunkel und kalt – aber das bemerkt er vor lauter Adrenalin gar nicht so richtig, während er zügig in die Pedale tritt. Sein Ziel: Das nächste Telefon, das sich an der Pforte des örtlichen Reha-Zentrums befindet. Seine Frau Sigrid braucht einen Krankenwagen. Sie liegt zu Hause im Bett, gegen fünf Uhr morgens ist ihre Fruchtblase geplatzt. „In unserem Neubau-Block hatte keiner ein Telefon. Das nächste war rund 200 Meter entfernt im Reha-Zentrum.“ Beim Reha-Zentrum angekommen, erklärt Dietmar dem Pförtner, was los ist. Dann dreht er schnell wieder um, zurück nach Hause zu seiner Frau. „Der Krankenwagen kommt gleich, bleib hier schön sitzen“, beruhigt er sie, gibt ihr noch einen Mutmach-Kuss. Dabei merkt Sigrid ganz genau, dass auch er ziemlich aufgeregt ist. „Wir Frauen haben die Sache mit der Geburt ganz selbstbewusst in die Hand genommen. Das war selbstverständlich – aber gut, was blieb uns auch anderes übrig?“ Dietmar hat nun seinen Teil getan. Er startet mit dem normalen Tagesablauf, radelt zum Aachener Bahnhof, von dort aus nimmt er den Zug zum Betrieb. So wie viele andere auch. Der allmorgendliche Fahrradkorso. „Ein Auto konnten wir uns nicht leisten. Trabanten hatten eine lange Wartezeit von 13 Jahren. Wir hatten nur 1000 DM gespart – davon hätten wir nie und nimmer ein Auto kaufen können.“ Inzwischen ist der Krankenwagen bei Sigrid eingetroffen. Bei sich hat sie ihre dreijährige Tochter Sibylle. „Meine Tochter muss mit, die müssen wir noch zur Oma bringen.“, erklärt Sigrid dem Krankenwagenfahrer. – „Kein Problem.“ Im Krankenwagen sagt Sibylle auf einmal zu ihrer Mama: „Ich hab dich ganz doll lieb.“ „Das war keine Floskel, wie das heute so ist. Das wurde gar nicht so oft ausgesprochen. Heute wird das doch so gesagt, wie ‚Auf Wiedersehen‘. Siehst du, das hat mein Herz berührt.“ Sie legen einen kurzen Zwischenstopp bei Oma Martha ein, um Sibylle abzuliefern. Dort sind alle noch im Nachthemd. „Zu der Zeit war gerade eine Geburtenflaute, da wurden nicht viele Kinder geboren. Deswegen hatte der Staat 1972 ein Gesetz beschlossen, dass bei jeder Geburt eine Beihilfe von 1000 Mark gezahlt wird.“ Sigrid ist allein im Kreißsaal, die Geburt verläuft super. Um 13 Uhr kommt Beate auf die Welt. Eine Krankenschwester ruft Dietmar auf der Arbeit an, um ihm zu sagen, dass alles gut verlaufen ist.

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