Hingabe

Die Geflügelzüchterin

Die Geflügelzüchterin

Es ist Herbst 1951. Meine 24-jährige Oma absolviert auf dem Gut Ramin bei Pasewalk ihre vierwöchige Lehrabschlussprüfung zur Geflügelzüchterin. Die DDR ist zu diesem Zeitpunkt zwei Jahre alt und es deutet nichts darauf hin, dass meine Oma den Staat verlassen würde. Vielmehr ist sie einfach froh, einen Ausbildungsplatz bekommen zu haben, was nach dem Krieg alles andere als selbstverständlich war. Als eine von nur drei Prüflingen schließt sie den Lehrgang mit Auszeichnung ab. Es folgen bewegte, aber auch glückliche Jahre – ganz nach dem Idealbild des DDR-Regimes: Hochzeit, Geburt zweier Kinder und feste Arbeitsplätze für beide Eheleute auf landwirtschaftlichen Betrieben in Clausberg nahe Eisenach und Bernburg an der Saale. Im Sommer 1955 reist die vierköpfige Familie mit Interzonenpässen nach Bremen, um enge Verwandte zu besuchen. Dort erfahren sie, dass ein Vertrauter bereit ist, meinem Opa in Friedland bei Göttingen eine Anstellung zu geben. Er fährt sofort hin, um sich den Betrieb anzusehen, kehrt jedoch wenig begeistert nach Bremen zurück. „Ihr könnt eure Kinder doch aber nicht im Regime der Ostzone aufwachsen lassen!“, schlägt es meinen Großeltern vor der Rückfahrt in die DDR entgegen. Meine Oma erkennt die Chance und überzeugt meinen Opa, einen Neuanfang im Westen zu wagen. Als er wenig später im Auftrag der SED einem Großbauern in Bernburg die Betreuung seiner Tierzucht verbieten soll, wird die Flucht zur Realität: Er setzt sich unter großer Geheimhaltung nach West-Berlin ab, um im Notaufnahmelager Marienfelde eine Anerkennung als Flüchtling zu erhalten. Wenig später gelingt ihm die Einreise in die BRD, wo die versprochene Stelle in Friedland auf ihn wartet. In der Zwischenzeit ist meine Oma samt Nachwuchs bei den Schwiegereltern in der Nähe von Rostock untergekommen. Dort bleiben sie bis Dezember 1955, bevor erneut Interzonenpässe beantragt werden, um die Verwandten in Bremen zu besuchen. Doch die Reise wird zunächst nur meiner Oma bewilligt. Unter Tränen gibt sie vor den Beamten an, unbedingt die Weihnachtsfeiertage mit ihren Kindern in Bremen verbringen zu wollen, da ihr Mann sie böswillig verlassen habe. Mit ihrem starken Willen und ihrer Überzeugungskraft schafft sie es schließlich, dass auch Tochter und Sohn mitreisen dürfen. Die Fahrt in den freien Westen gelingt und als mein Opa an Heiligabend nach Bremen kommt, ist die Familie endlich wieder vereint. Einen besseren Zeitpunkt als das Fest der Liebe hätte es wohl dafür nicht geben können. In Friedland beziehen meine Großeltern mit den Kindern eine Betriebswohnung und arbeiten in Festanstellungen. Dadurch ist die Sorge gering, die BRD wieder verlassen zu müssen. Meine Oma lebt mittlerweile in einem Seniorenhaus. Ich besuche sie, um ihren Geschichten zu lauschen oder aus meinem Leben zu erzählen, damit sie daran teilhaben kann. In die DDR musste sie nie zurückkehren – und Geflügel hat sie seit vielen Jahrzehnten auch nicht mehr gezüchtet. Wie nervenaufreibend die Trennung der Familie vor rund 70 Jahren gewesen sein muss, entzieht sich meiner Vorstellungskraft. Meine Großeltern schafften es dank einer Lebenseinstellung, die sie auch mich geprägt hat: „Stark im Unglück, klug im Glück. Immer vorwärts, nie zurück.“

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“Glück haben” in der DDR
Unbekannter