Hoffnung

Dir fehlt deine zweite Hälfte

Dir fehlt deine zweite Hälfte

Katrin kam zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Cornelia in Magdeburg zur Welt. Doch bis heute gibt es von Cornelia keine Spur. Kurz nach ihrer Geburt soll sie als Frühgeborenes erstickt und gestorben sein. Die Eltern haben ihr angeblich totes Kind nie gesehen. Kein Grab, keine Beweise. Nichts. Nach der Wende entdeckt Katrin in der Zeitung Artikel über verschwundene Kinder in der DDR. Immer wieder, immer häufiger liest sie, dass Menschen ihre Geschwister suchen, ihre Kinder, die anscheinend spurlos in der DDR verschwunden sind. Ihre Eltern waren regime-treue Bürger. Der Vater, 22, ein junger Polizeiauszubildender, hatte kurz nach dem Tod von Cornelia ein Formular ausfüllen müssen: Verzicht auf Obduktion, auf das Grab und eine Anzeige gegen die Krankenschwester, die das Frühgeborene als letzte betreute. Eine Obduktion war zu DDR-Zeiten bei verstorbenen Kindern ab 1000 Gramm verpflichtend. Katrin und ihre Zwillingsschwester wogen jeweils ungefähr 1700 Gramm. „Also, wenn ich herausfinde, dass dein Vater damit irgendwie zu tun hat... ja, dann würde ich mich jetzt noch scheiden lassen.“, waren die Worte ihrer Mutter. Katrin vermutet: „Weil er ja auf der Polizeischule war und sie ihn deswegen vielleicht unter Druck gesetzt haben“, könnte das Verschwinden damit etwas zu tun haben. Später stellt sich heraus, dass ihr Vater selbst genauso ahnungslos war wie Katrins Mutter. „Als man in der DDR aufwuchs, hat man alles, was einem gesagt wurde, nicht groß hinterfragt. Es gab eigentlich nichts zu hinterfragen, weil man nie an Informationen gekommen ist.“ So hinterfragten auch Katrins Eltern nicht den Tod ihres zweiten Kindes, bis ihre eigene Tochter sie damit konfrontierte. Es beginnt eine große familiäre Aufarbeitung. Die Geschichten, die Katrin in Artikeln liest, in Gesprächen mitbekommt, bestärken sie darin, selbst Hand anzulegen und nachzuforschen. Es beginnt eine Suche, die sich über Jahre hinwegzieht und bis heute andauert. Katrin wendet sich mit der Erlaubnis ihrer Mutter an einen Privatdetektiv. Sie geht zu Stasi-Beauftragten, zur Frauenklinik, ins Stadtklinikum, in die Bibliothek, ins Stadtarchiv, sie macht Gentests, geht zur Universität, schließt sich dem Bund gestohlener Kinder in der DDR an. Doch sie findet nicht viel heraus. Der Gedanke daran, dass es da noch jemanden aus der Familie geben könnte, den sie aber nie gesehen hat, lässt Katrin nicht mehr los. Bevor sie in den Urlaub fährt, träumt sie davon, ihre Schwester dort zu treffen: „Als ich dann durch die Stadt gelaufen bin... Ich habe zu mir gesagt: Du bist blöd. Was ist bloß in deinem Kopf los?“ Wie kann es sein, dass ein Kind spurlos in der DDR verschwindet? In der DDR hat sie sich gar nicht getraut, jemals etwas zu hinterfragen. Katrin hat das gemacht, was man ihr gesagt hat und auch danach gelebt. Viele Jahre später hat sie den Mut gefunden, Fragen zu stellen. Im Gespräch erzählt sie von ihren Bemühungen, als wäre es selbstverständlich. Dabei ist es das überhaupt nicht. Wie viele Familien, Eltern, Geschwister, Kinder leben in Deutschland, die sich nicht mit ihrer Vergangenheit beschäftigen oder es gar nicht wollen? Katrin gibt nicht auf. Denn die Vorstellung, dass ihre zweite Hälfte irgendwann, irgendwo wieder auftauchen könnte, gibt ihr die größte Kraft: „Ich gebe es auf keinen Fall auf. Ich hoffe immer noch auf einen Zufall, der mir etwas bringt.“

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