"Hallo Oma, danke für deine Zeit heute!", sage ich. "Oma" heißt eigentlich Ingrid. Und Ingrid ist auch nicht meine Oma, sondern die meiner Nachbarin. Ich nenne sie trotzdem "Oma", weil wir uns schon lange kennen. Wir sprechen am Telefon, denn Oma wohnt auch heute noch in Ostdeutschland. Diese Interview-Geschichte erzählt die persönliche Lebensgeschichte von Ingrid als Mutter und berufstätige Frau in der DDR. Ingrid wurde im ostdeutschen Hödingen geboren und verbrachte den Großteil ihres Lebens in Salzwedel, Sachsen-Anhalt. Sie war gerade erst 12 Jahre alt, als die Mauer gebaut wurde. "Besonders das Schulwesen hat sich danach geändert", sagt die heute 65-Jährige. Nach dem Mauerbau wurden viele Tätigkeiten nicht mehr als Beruf anerkannt, wodurch ihre spätere Berufsauswahl erheblich eingeschränkt wurde. Vor dem Examen hätte Ingrid nicht heiraten und eine Familie gründen dürfen. Dennoch wurde sie vorher unerlaubt schwanger und brach ihre Ausbildung zur Krankenschwester ab. Ingrid wollte unbedingt mit Kindern arbeiten und begann, als ihre Tochter alt genug war, eine Ausbildung zur Erzieherin. Diesen Berufswunsch durfte sie noch selbst äußern. Ingrids Vater floh ein Jahr nach ihrer Geburt in den Westen. Sie lernte ihn erst kennen, als sie 19 Jahre alt war. Sie selbst hat jedoch nie an Flucht gedacht. "Man kannte es ja nicht anders", sagt die heutige Rentnerin. Ihre Familie und Freunde leben in unmittelbarer Nähe zu ihr und vor allem der Zusammenhalt in der Nachbarschaft ist das, was Ingrid auch heute noch im Osten hält. Sie hatte nie Angst, ihren Ehemann und die drei gemeinsamen Töchter wegen der knappen Lebensmittel nicht ausreichend versorgen zu können. "Man hatte zwar nicht viel, aber die Lebensmittel wurden dementsprechend eingeteilt und vor allem hat man sich in der Gemeinde viel unterstützt. Von dem einen hat man das gebraucht und der andere hat mal etwas von dir gebraucht. Das hat man im Westen einfach nicht!" Auch als zwei ihrer drei Töchter in den Westen zogen, blieb Ingrid ihrem Leben im Osten treu. "Dann hätte ich die Ausbildung nochmal komplett neu machen müssen. Die Kindergärten im Westen waren ja ganz anders!", sagt sie. Noch heute trifft sie ehemalige Kindergartenkinder in dem Ort, in dem sie nach wie vor lebt. Vor allem diese freundlichen Begegnungen sind es, die ihr bestätigen, dass das Leben im Osten das Richtige für sie ist! "Danke, Oma, das war wirklich ein schönes Gespräch!", sage ich zur Verabschiedung. Die ganzen Klischees über Lebensmittelknappheit, eingeschränkte Reisemöglichkeiten und Bildung kennt man zwar aus Dokumentationen, aber all dies aus erster Hand einer Zeitzeugin zu erfahren, wirft für mich persönlich ein ganz neues Licht und einen sehr tiefen Einblick auf die Geschichte der DDR. Das in dieser Geschichte vorgestellte Buch hat Ingrid während ihrer Arbeit als Kindergärtnerin oft begleitet und Freude bereitet.