Als ich sechzehn war, begegnete mir Josef in der Schule. Im Grunde musste er mir regelrecht vorgestellt werden. Kein Wunder, denn er wirkte so unscheinbar in seinem gelben Umhang, alles an ihm war klein und gänzlich ohne Farbe – man hätte ihn leicht unbeachtet liegen lassen können. Nur ich spürte: Er hatte mir etwas mitzuteilen.
Doch zunächst verstand ich ihn nicht, zu fremd und unvertraut war seine Sprache, und seine Geschichten wirkten geradezu kafkaesk. Besonders in den ersten Wochen war es mühsam, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Er verhielt sich nämlich äußerst eigensinnig und war dadurch bei meinen Mitschülern eher unbeliebt. Nur ich mochte ihn irgendwie, weil er alles so anders erlebte.
Klar, auch für mich blieb Josef oft ein Rätsel, und ich verlor ihn für eine Weile aus dem Blick. Erst später, als ich sechsundzwanzig war, traf ich ihn während meines Studiums wieder und lernte seine gesamte Verwandtschaft kennen. Was für ein abgedrehter Haufen, Gregor und all die anderen.
Erst zu dieser Zeit fiel mir wirklich auf, wie einsam Josef geblieben war. Er hatte keine Freunde, keine feste Beziehung, nur berufliche Kontakte und langsam schwand sein Ego – die einzige Quelle seines Selbstwertgefühls. Das Bewusstsein seiner Freiheit verkehrte sich in ein erdrückendes Schuldgefühl. Josefs Botschaft, der elementare Zusammenhang von Glück und Werten, hatte mich erreicht.
Mittlerweile bin ich älter als Josef, Vater geworden und vermittle als Lehrer Sprache und Werte. Josef gehört noch immer zu meinen persönlichen „Wertgegenständen“ und er ist zugleich eine Mahnung, sensible Figuren wie ihn vor den Flammen der Intoleranz zu retten.
Josef war mein Lehrer. Ein Lehrer ist ein unerklärlicher Freund, eine Initiation des Bewusstseins. Bewusstsein ist die Grundlage eines Lebensentwurfes und damit Ursprung aller Wertebildung. Werte sind die glückstragenden Freiheiten des verhafteten Seins. Diese Erkenntnis verdanke ich ihm.