Empathie

Mut zur Flucht

Mut zur Flucht

Wir wohnen in der linksrheinischen Gemeinde Wachtberg. Im Herbst 1989 nahmen wir (meine Frau und ich mit drei Kindern im Schul- und Vorschulalter) zwei junge Männer aus Mecklenburg-Vorpommern bei uns auf. Die beiden waren über Prag „in den Westen“ ausgereist. Die benachbarte Turnhalle war damals überfüllt, deshalb suchte die Gemeinde nach privaten Unterkünften. Wir haben viel mit unseren Gästen gesprochen, und meine Frau und ich haben aus diesen Gesprächen viel gelernt. Mit einem der beiden, der in unserer Region geblieben und glücklich geworden ist, stehen wir heute noch 31 Jahre danach in herzlichem Kontakt. 1989/90 gab es im Westen nicht wenige, die den Ausreisenden aus der DDR schnöde materielle Motive unterstellten. Auch heute noch sprechen manche gedankenlos von „Abgehauenen“ oder „Republikflüchtigen“. Solchen Leuten habe ich damals widersprochen, und das tue ich noch heute. Die Ausreisenden waren Helden, die wir nicht als Helden wahrnehmen. Das ist ein Fehler. Es gehört nämlich sehr viel Mut und Seelenstärke dazu, seine Heimat zu verlassen, Brücken hinter sich abzubrechen und in der Fremde einen Neuanfang zu wagen. „Warte nicht auf bessere Zeiten!“ (Wolf Biermann) Jeder Mensch hat das Recht, aus dieser Aufforderung die Konsequenz zu ziehen, dass er weggeht – auch wenn er damit eine politische Lawine auslöst. Genau das haben die Ausreisenden getan, gewollt oder ungewollt. – Warum ist das heute noch wichtig? Weil es mir hilft, die vielen Flüchtlinge von heute mit anderen Augen zu sehen. Es geht hier nicht um die politische Frage, wie man Migration vernünftig regelt. Es geht darum, zunächst einmal Respekt vor Menschen zu haben, die den Mut zur Flucht hatten. Mein Bild zeigt eine alte Tuschezeichnung meines Heimatdorfes. Für mich symbolisiert das Bild Heimat - und zugleich auch das, wovon man sich auf der Flucht verabschiedet. Ende der 80er arbeitete ich beim VEB Textima-Elektronik im Bereich EDV-Organisation. Es sollte ein großes Schaltkreiszentrum errichtet werden, in dem der 1. 1 - Megabit - Speicher der DDR hergestellt werden sollte. Die Bauarbeiten waren in vollem Gange, die Gebäude standen bereits, die Medien (Luft, Wasser, Strom) lagen an. Meine Aufgabe und die meiner Kollegin und Kollegen war es, die betriebswirtschaftlichen Abläufe zu formalisieren und in einfachen Programmen für Abrechnungen und statistische Zwecke darzustellen. Mit der Wende hatte das alles keinen Wert mehr. Megabit-Speicher gab es schon längst auf dem Weltmarkt und unsere „Programme“ dürften kaum jemandem ein müdes Lächeln entlockt haben. Im Juli 1990 wurde ein Teil der Belegschaft in Kurzarbeit (0 Stunden) geschickt, meine Kollegin und ich waren dabei. Das fand ich ziemlich ungerecht – warum nicht die Kollegen? Aber zum Jammern blieb nicht viel Zeit. Mein Mann hatte sich an der TU Chemnitz mit Kollegen und Studenten ein kleines Projekt aufgebaut und nutzte nun die Gelegenheit, sich selbstständig zu machen.

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Das Zeugnis
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