Rechtstaatlichkeit

Prozessbegleitung und Rechtsstaatlichkeit

Prozessbegleitung und Rechtsstaatlichkeit

Eine Frau, die in einer Wohnung festgehalten und von drei Männern mit einer Waffe bedroht und über mehrere Stunden hinweg vergewaltigt wurde, schildert im Gerichtssaal, was sie erlitten hat.
Sie spricht darüber, welches Leben sie vor der Tat gelebt hat und auf Nachfragen der Richterin erzählt sie von ihren Interessen und Träumen, die sie gehabt hatte. Sie spricht darüber, wie die Taten sie im Alltag verfolgen, über wiederkehrende Erinnerungen und Albträume, darüber was in ihr zerstört wurde. Sie muss jede Tat erneut im Detail erinnern und aussprechen: welcher der Angeklagten hat was, mit welchem seiner Körperteile, an welcher ihrer Körperstellen und wie lange genau getan. Die Zeugin kämpft um Haltung. Sie kämpft gegen Abscheu, Ekel und Scham. Und darum, die Erinnerungen auszuhalten und in Worte zu fassen. Ich empfinde, sie kämpft auch um Respekt, Anerkennung und Würde.
Im Gerichtssaal ist ausschließlich die Stimme der Frau zu hören. Wenn sie nachdenkt oder mit den Tränen ringt, könnte man eine Stecknadel fallen hören.
Etwas Ungewöhnliches passiert nach 30 Minuten. Ein Justizwachtmeister steht unaufgefordert auf, geht von hinten durch den Gerichtssaal an den Zeugentisch und stellt ein Glas Wasser vor die Zeugin.
Ich erlebe diese Situation in einem Berliner Gerichtssaal als psychosoziale Prozessbegleiterin. Es rührt mich an, weil ich ein solches Zeichen des Mitgefühls und der Menschlichkeit im Ablauf des streng geordneten Verfahrens einer Gerichtsverhandlung, in der die Vorsitzenden Richter*innen jeden Schritt vorgeben, bisher nicht erlebt habe.
Seit 2017 bin ich als psychosoziale Prozessbegleiterin tätig. Diese Form der Unterstützung ermöglicht besonders schutzbedürftigen Verletzten, die durch schwere Gewalt- und Sexualstraftaten betroffen sind, eine intensive Unterstützung durch speziell ausgebildete Fachkräfte. Als besonders schutzbedürftig gelten Kinder und Jugendliche sowie Erwachsene (Hinterbliebene) bei schweren Straftaten. Bei den Straftaten kann es sich z.B. um sexuellen Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung oder Tötungsdelikte handeln. Psychosoziale Prozessbegleitung gibt den Betroffenen eine professionelle Begleitung während des gesamten Strafverfahrens, das sich mitunter über mehrere Jahre hinziehen kann.
Psychosoziale Prozessbegleitung wird z.T. über das definiert, was es nicht ist: es ist keine juristische Beratung, es ist keine Aufklärung oder Erörterung der Straftat, es ist keine Therapie. Aber: es ist eine sehr gute Möglichkeit, Verletzte einer Straftat, in einem für sie sehr fremden und unbekannten Bereich aufzuklären, sie zu begleiten und zu unterstützen. Ich kann ihnen erklären, wie das Strafverfahren in seinen einzelnen Abschnitten abläuft und was auf sie zukommt. Ich informiere sie, wie eine Vernehmung im Landeskriminalamt abläuft, welche Rechte und Pflichte sie haben. Ich kann an ihrer Seite sein, wenn sie vernommen werden. Zudem kann ich mit ihnen vor Eröffnung der Hauptverhandlung den Gerichtssaal besichtigen und erklären, welche Prozessbeteiligten mitwirken. Wenn sie in der Gerichtsverhandlung als Zeugen aussagen, kann ich neben ihnen sitzen. Die Gespräche mit den Betroffenen vor den jeweiligen Vernehmungen haben das Ziel ihre (oft in hohem Maße) vorhandenen Belastungen (z.B. Schlafstörungen oder wiederkehrende Erinnerungen) zu mindern. Es geht in den Gesprächen um die Folgen der Tat/en, um ihre Ängste und Befürchtungen (etwa vor der Begegnung mit dem Angeklagten), aber auch um ihre Erwartungen an das Strafverfahren. Die Auseinandersetzung damit kann zu eigener Klarheit, ggf. zu realistischer(er) Einschätzung durch Wissensvermittlung und zu psychischer Entlastung führen.
Zu meinen Aufgaben gehört es auch, ihnen Wege aufzuzeigen, wie und wo sie weitergehende Hilfe bekommen (etwa Schutz bei fortgesetzter Gewalt, anwaltlicher Beistand, Traumaambulanzen, (Frauen-)Hilfeeinrichtungen, soziale und finanzielle Entschädigung....).
Für Menschen, denen während einer erlittenen Straftat, jegliches Recht der Selbstbestimmung genommen wurde, ist es wichtig, dass diese wieder spürbar hergestellt wird. Daher überlasse ich ihnen grundsätzlich die Entscheidung, welche Schritte sie gehen und welche Unterstützung sie in Anspruch nehmen.
Wird das im Grundgesetz verankerte Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt, kann auch der Rechtsstaat das erlittene Unrecht nicht adäquat ausgleichen. Durch die psychosoziale Prozessbegleitung kann ich im Rahmen des Strafverfahrens mit dazu beitragen, dass den Betroffenen rechtsstaatliches Handeln transparent(er) und verstehbar wird. Und jede Geste, Haltung und Handlung aller beteiligten Personen, die Mitgefühl und Respekt zeigt, kann dabei helfen, derart belastende Situationen durchzustehen.
Das Foto der Wendeltreppe im Berliner Strafgericht ist für mich Sinnbild für den Prozess, den Betroffene von Straftaten durchmachen: Sie haben einen langer, unüberschaubaren Weg zu gehen, an dessen Anfang das Ende für sie nicht sichtbar ist. Die Wendeltreppe führt nicht auf kürzestem und direktem Weg zum Ziel; es kann das Gefühl entstehen, sich im Kreis zu drehen. Aber es gibt ein Geländer, das den Weg- den die Betroffenen selbst bewältigen müssen- begrenzt, das stabilisiert, das Orientierung, Halt und Sicherheit gibt.

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