Otto steht an der Hobelbank, als er erfährt, dass seine Schwester samt Familie verschwunden ist. Erst letzten Monat hatte er ihr seine selbstgefertigte Schrankwand geliefert. Er weiß sofort Bescheid. Auf der Wache befragen sie ihn, zweimal drei Stunden – sein erstes Verhör. 47 Jahre später sitzt Otto vor der Schrankwand und ist heute noch stolz auf die schlichte Eleganz seines Eigenwerks: „Das ist zeitlos“, findet er. Und: „Den schwedischen Beschlag habe ich meinem Onkel zu verdanken.“ Eigentlich wollte er Maurer lernen, aber dann kam die Mauer, die ihn von der Verwandtschaft in Westberlin trennte. Damit war auch die Lehrstelle weg, die sie ihm zugesagt hatten. Also geht er in den Familienbetrieb und wird Tischler. Wie sein Opa und sein Vater. Morgens und mittags mit der Familie am Tisch. Leckeres Essen bei Mutter und Zoff mit Vater. 8 Stunden harte Arbeit mit Holz. Er steht oft an der Hobelbank und an der Poliermaschine. Baut Fußbänkchen, Blumenbänke und Schränke. Eine besonders schöne Schrankwand fertigt er für seine Schwester. Die Tischlerlehre im Elternhaus war nicht das, was er sich erträumt hatte. Die Abende dagegen sind schön. Bunte Abende, die Säle voll und die Stimmung richtig gut. „Einmal haben sie uns rausgeschmissen, weil wir Rock ‘n Roll getanzt haben, Doris und ich. Da war so ein scharfer Hund, der hat dafür gesorgt, dass wir gehen mussten. Aber am nächsten Tag waren wir wieder drin. Geholfen hat sicherlich, dass ich für den Betreiber vom Clubhaus Tischlerarbeiten gemacht hatte. Ganz so eng wurde das auch nicht gesehen mit den Regeln. Über einiges wurde auch hinweggelächelt. Die Mauer war traurig genug. Was zählte, war Gemeinschaftssinn, wo es möglich war.“ „In der DDR war es normal, nach Feierabend weiterzumachen. Und so haben wir in unserer Freizeit das eigene Haus gebaut. Handwerker, Bekannte und Freunde haben geholfen. Das war kein Thema, überhaupt nicht. Samstags hat Doris gekocht. Und ich habe auf anderen privaten Baustellen mitgeholfen. Die Fenster habe ich von meinem Onkel, einem Bautischler im volkseigenen Betrieb, bekommen. Nicht geschenkt, aber überhaupt bekommen. Wir haben getauscht und uns geholfen. Gegenseitig. Daran denke ich gerne.“ „Kurz bevor das Haus fertig war, kam meine Schwester mit ihrer Familie vorbei. Dass es ihr Abschiedsbesuch war, wusste ich zu der Zeit noch nicht. Und als wir einzogen, da war sie schon im Westen. Republikflüchtige wurden grundsätzlich enteignet. Alles wäre unter den Hammer gekommen. Auch mein Geschenk, die Schrankwand, in die monatelange Arbeit gesteckt hatte. Aber da ich beweisen konnte, dass ich sie gebaut hatte, haben sie eine Ausnahme gemacht. Dass meine Schwester weg war, das war eben Tatsache. Das konnte keiner mehr ändern. So hatte ich als schwachen Trost wenigstens mein Werkstück zurück.“ „Was sollte man machen? Wir haben das Beste draus gemacht!“