Freiheit

Fehlender Kontakt führt zur Entfremdung

Fehlender Kontakt führt zur Entfremdung

Er erinnert sich noch gut, sagt er, an das Gefühl im Bauch. So ein schreckliches Gefühl im Bauch. Ein Bekannter hatte mitten in der Nacht geklingelt, er will sich verabschieden, er haut ab. Mein Großvater erinnert sich, wie aufgeregt er selbst war. Natürlich war es nicht das erste Mal, dass jemand gegangen ist. Sie wohnten in einer 2-Zimmer Wohnung für Mitarbeiter der Eisenbahn, im russischen Sektor in Berlin. Sein Vater hatte in Berlin bei der Eisenbahn gearbeitet und somit dort auch viele Kollegen und Freunde. Mein Großvater erzählt nur, wie plötzlich manche einfach nicht mehr da waren. Sie waren einfach weg, weil sie still und heimlich Ost-Berlin und damit die DDR verlassen hatten. „Weg?“ Ich frage ihn, ob er nicht auch das Gefühl hatte, weggehen zu müssen. Er verneinte. In dem Alter macht man sich über das alles noch keine Gedanken. Es stimmte, er war noch sehr jung. Im Prinzip hat er seine gesamte Jugend dort verbracht. Und damals war es in Berlin noch anders. Alles war offen. Man konnte einfach über die Grenzen. „Sie verlassen jetzt den russischen Sektor“. Wären die Schilder und Grenzpolizisten nicht gewesen, hätte man den Sektorenwechsel kaum bemerkt. Ein paar Sachen vielleicht schon: „Für 25 Pfennig konnte man als Ostberliner dort ins Kino!“. Er erzählt mir, damals hatte er keine Angst. Das mit der Angst kam erst später. Das erste Mal, als er sich unwohl gefühlt hatte, war er schon in der Oberschule. Mein Opa wollte mit dem Fahrrad einen Bekannten im Norden von Ost-Berlin besuchen. Zur Abkürzung durchquerte er einen Teil von West-Berlin. Auf dem Rückweg wurde er an der Grenze angehalten. Der Polizist nahm ihm das Fahrrad ab. Bis heute versteht er nicht ganz, wieso. Trotzdem hat er es ohne Widerrede abgegeben. Die Mutter meines Großvaters fand es natürlich nicht in Ordnung, „das geht doch nicht“. Noch am selben Abend ging sie zur Grenzwache und verlangte das Fahrrad zurück. Es war ein Westrad, ein Geschenk seiner Oma. Und was meinem Großvater damals so wichtig war, eins mit einem „Ochsenkopflenker“. Seine Oma wohnte in Westdeutschland, sie verbrachten nahezu jede Sommerferien dort, sofern die Ausreise genehmigt wurde. Seine Mutter, seine Schwester und er selbst. Auch dort hatten Sie nicht viel. Seine Oma lebte auf dem Land bei einer Bauernfamilie. Wenn Sie zu Besuch waren, teilten Sie sich alle ein einziges großes Zimmer. Aber all das störte meinen Großvater nicht, er hat die Ferien auf dem Land als schöne Zeit in Erinnerung. „Als Kind nimmt man so Sachen gar nicht wahr.“ Später gab es auch viele Jahre, in denen die Ausreise nicht genehmigt wurde. Jedes Mal ein anderer Grund, wieso die Behörden die Anträge ablehnten, drei Jahre in Folge. Auch im Jahr als mein Opa sein Abitur machte, stellten Sie einen Reise-Antrag. Wie der Zufall so will, wurde der Antrag gerade in diesem Jahr genehmigt. Sie konnten also ihre Familie besuchen, allerdings ohne seine Schwester, die bereits arbeitete. Am 4. August 1961 sind sie mit dem Interzonenzug losgefahren zu seiner Oma, er weiß es noch ganz genau. Dort besuchte er auch einen alten Bekannten. Zu der Zeit gab es täglich mehr Flüchtlinge aus der DDR, und er meinte zu meinem Opa aus Spaß „Vielleicht solltest du hierbleiben, bald machen Sie die Grenze zu“. Neun Tage später waren Sie in Hamburg, bei seinem Cousin. Es war Sonntag, der 13. August. Ohne neueste Nachrichten zu hören, sind sie morgens noch segeln gewesen. Erst am späten Nachmittag waren Sie wieder zu Hause. Erst dann haben Sie es mitbekommen: Die Grenze ist zu. Mein Großvater konnte es kaum glauben. Jetzt ging alles ganz schnell. Sie hatten nicht viel bei sich, ein Koffer mit Kleidung, um die Sommertage dort zu verbringen, sonst nichts. Trotzdem war klar, dass Sie hier im Westen bleiben würden. Die Mutter meines Opas konnte sich um ihn und ihre alte Mutter kümmern, musste dann aber ihre Tochter allein in der DDR lassen. Immerhin war diese alt genug, schon berufstätig und bald verheiratet. Mein Opa stellt sich vor, wie schwer es trotzdem für seine Mutter gewesen sein muss, diese Entscheidungen zu treffen. Am nächsten Tag reiste sein Cousin nach West-Berlin und ging über die Grenze, um wichtige Dokumente meines Großvaters zu holen. Er erzählt mir, wie alle Zeugnisse der Grundschule in einer Mappe klebten, und sein Cousin sie herausgerissen hat, so dass man sie möglichst unauffällig transportieren konnte. Heute sieht man noch die Abrisspuren und Reste des Klebstoffs auf dem Papier. Und so ist es passiert. Jetzt gehörte er auch zu denjenigen die „einfach weg“ waren. Viel Zeit würde vergehen. Viele Menschen, die ihm nahestanden, würde er für viele Jahre nicht wiedersehen. Seine Schwester konnte er erst 13 Jahre später wieder besuchen. Das erste Mal, dass sie seine Frau und seine Kinder kennenlernen würde. Und das erste Mal, dass er seine Nichte sah. Es überhaupt in Erwägung zu ziehen, die ehemalige Heimat zu besuchen, erklärt er, lag an den aktuellen innerdeutschen Abkommen. Es war das erste Mal nach Jahren, dass man als ehemaliger DDR-Bürger nicht befürchten musste, verhaftet zu werden. „Man ist sich unheimlich fremd gewesen, schon nach so einer Zeit. Die besten Freunde, mit denen man jeden Tag verbracht hat, oder die Schwester, mit der man Tag und Nacht verbracht hat, erschienen einen so verändert.“ Er erzählt mir von seinen Freunden. Eine unheimlich enge Freundesgruppe aus der Oberschule. Sie trafen sich nach all den Jahren noch einmal. Er brachte guten Whiskey aus dem Westen mit, und die Gruppe machte sich einen schönen Abend. Einer war mittlerweile Sportfunktionär und meinte im Laufe des Abends: „Morgen muss ich aber mitteilen, dass ich Westkontakt hatte“. Mein Opa sagt, er sei froh gewesen, dass er sich trotzdem mit ihm treffen wollte. Das war das letzte Mal, dass Sie sich alle gesehen haben. Vieles hatte sich verändert. Er betont, wie das mit der Angst jetzt auch ganz anders war. Nicht nur wegen der schroffen Grenzpolizisten, sondern auch wegen seiner Geschichte. Er war zwar nicht geflüchtet im engeren Sinn, aber hat es doch Unterlassen zurückzukehren. An den Grenzübergängen wurde alles genau kontrolliert. Die Größe des Benzintanks wurde überprüft, mit Spiegeln wurde gecheckt, was unterm Auto ist, und viele verpackte Geschenke wurden zur Inhaltskontrolle geröntgt. Mein Großvater hatte immer große Angst gegen irgendwelche Bestimmungen zu verstoßen. Auf den Autobahnstrecken hielt er sich jedes Mal ganz korrekt an die die Geschwindigkeitsbegrenzung von 100 km/h. Er erinnert sich noch gut an das Klacken der Reifen in regelmäßigen Abständen wegen der Lücken zwischen den Betonplatten.

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