Ende 1990 stehe ich im Kaufhaus am Berliner Alexanderplatz auf der Rolltreppe nach oben, als ich plötzlich starkes Herzklopfen bekomme: Auf der benachbarten Rolltreppe fährt ein Mann runter, den ich kenne. Ich mache kehrt und fahre ihm hinterher. Als er an einem Wühltisch stehen bleibt, tippe ich ihm von hinten leicht auf die Schulter, woraufhin er sich umdreht und mich mit einem lauten „Gilbert!“ begrüßt. Redet mich also mit Vornamen an wie einen alten Freund. Ich frage ihn, ob er sich für mein Buch „Mehl aus Mielkes Mühlen“ würde interviewen lassen, und nach meiner Erläuterung des Projekts ist er sofort bereit. Der Mann hieß Wolfgang Mascher und war, als ich ihm das erste Mal begegnete, Vernehmer im zentralen Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit – im Range eines Majors. Sommer 1982 hatte ich in Ostberlin, wo ich auch wohnte, Punks interviewt. Das Material lag zunächst zwei Jahre in der Schublade, dann hab ich es wieder rausgeholt, und im VEB Wärmeanlagenbau, wo ich als Sachbearbeiter für Inventuren und Versicherungen angestellt war, hat eine nette Kollegin es heimlich für mich vervielfältigt. 90 Exemplare hab ich in der DDR verteilt an Freunde und Verwandte. 8 Stück waren für Freunde in der Bundesrepublik und in Frankreich bestimmt 1985 habe meiner Mutter die Hefte in die Hand gedrückt, die als Rentnerin in den Westen reisen durfte. Der Zoll aber war gründlicher als gehofft und hat die Hefte gefunden, was am 27. März 1985 zu meiner Verhaftung führte. Nach sechs Monaten, in denen ich verhört wurde von einem Major, dessen Namen ich nicht kannte, hat mich das Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg zu 2 Jahren und 2 Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Am 8. April 1986 wurde ich, weil die Bundesregierung für mich eine Freikaufsumme gezahlt hatte, vorzeitig entlassen – auf meinen Wunsch in die DDR. Und nun, 1990, saß ich in seiner Wohnung und stellte ihm meine Fragen, die er bereitwillig beantwortete. Damals, so gab er zu, war er zutiefst überzeugt: was ich getan hatte, sei eine „Sauerei“ gewesen; letztlich aber räumte er ein, dass er schwere Schuld auf sich geladen habe, weil er nicht nur meine, sondern viele Biografien zerstört habe. Damit hatte er den Weg freigemacht für etwas, das man vielleicht „Versöhnung“ nennen kann. Und ich hatte nie den Impuls, ihn vor Gericht zu bringen – die Geschichte hatte ja über ihn schon die Höchststrafe verhängt: das Ende seiner geliebten DDR und den Verlust aller Macht und aller Privilegien. So konnte ich ihn mit dem Gefühl des Siegers im Jahr 2000 zur Premiere meines zweiten Buchs einladen: zur Veröffentlichung der Punk-Interviews, für deren Verbreitung er mich 1985 ins Gefängnis gebracht hatte. Dabei entstand die Aufnahme, die mich im Gespräch mit meinem ehemaligen Vernehmer zeigt!